Viele Linke predigen Fortschritt, schaffen aber Streit und Hass, zuletzt beim Thema Israel. Davon profitieren die Gegner der Demokratie, findet stern-Kolumnistin Jagoda Marinić.
Wäre der gesellschaftliche Diskurs ein Basketballspiel, müsste jetzt ein Trainer entschieden Time-out fuchteln. Er und seine Spieler müssten die Köpfe zusammenstecken, von ihrer bisherigen Strategie ablassen und eine neue suchen. Danach sollte er die Truppe motiviert wieder aufs Feld jagen. Die Debatte braucht ein Innehalten, denn die Zeiten sind ernst.
In diesem Text meines Kollegen finden sich viele Beispiele dafür, wie verhärtet die Fronten inzwischen sind in der deutschen Gesellschaft. Seit dem Terror der Hamas vom 7. Oktober aber ist klar: Es geht längst nicht mehr nur darum, ob man Winnetou noch gut finden darf. Jetzt geht es um Leben und Tod. Es geht um den Einfluss von Teilen der antirassistischen Bewegungen, die zwar ein gerechtes Miteinander fordern, die aber in Juden, weil sie weiß seien, keine bedrohte Minderheit sehen wollen.
Jüngstes Beispiel: An der Berliner Universität der Künste (UdK) protestierten etwa 100 Studierende gegen eine Erklärung der Uni-Leitung, die sich mit Israel solidarisiert hatte. Jüdische Studenten fühlen sich dort nach antiisraelischen Protesten nicht mehr sicher. Der UdK-Präsident Nobert Palz versuchte, mit den Protestierenden ins Gespräch zu kommen, diese sollen ihn jedoch nur angebrüllt haben. Man konnte sich auf die Verurteilung des Terrors der Hamas als gemeinsamen Nenner nicht mehr einigen; stattdessen müsse man Israel sowie den "Genozid" und den "Kolonialismus" verurteilen. Zuletzt wird sicher irgendwer gesagt haben, der Palz sei nur ein alter weißer Mann.
Die "neue deutsche Weinerlichkeit"
Es gibt ihn, den Kulturkampf. Er ist keine Erfindung der Rechtskonservativen, die den Fortschrittskampf der Minderheiten verhindern wollen. Die außerdem dafür sorgen wollen, dass Frauen keineswegs mehr Macht erlangen. Das ändert aber nichts daran, dass es innerhalb der antikolonialen, antirassistischen Strömungen Sicht- und Denkweisen gibt, die den gemeinsamen Nenner immer schwieriger machen, etwa, wenn eine Ikone der Genderforschung wie Judith Butler die Hamas auch nach dem 7. Oktober als Teil einer Freiheitsbewegung sieht.
Linke kritisieren Israel für die zivilen Opfer in Gaza, nicht jedoch die Hamas, die das eigene Volk in Geiselhaft nimmt. Im Gegenteil: Die Forderung, die Hamas zu verurteilen, empfinden manche als rassistisch. Viele von ihnen betonen, man dürfe seine Menschlichkeit nicht verlieren, wenn es um Empathie für Palästinenser geht – was richtig ist. Gleichzeitig lassen sie Solidaritätsbekundungen mit den Opfern der Hamas vermissen. Solche paradoxen Auftritte sind etwa bei der Autorin Deborah Feldman zu beobachten, die in Interviews bemängelt, als Jüdin in Deutschland nicht reden zu dürfen, weil sie zu israelkritisch sei. Nur hatte sie kurz zuvor bei Markus Lanz einen Monolog gehalten – und Lanz ließ ihr den Raum. Man könnte mit Gästen, die behaupten, nicht ihre Meinung äußern zu dürfen, einen langen Talkshow-Stuhlkreis bilden, sein Titel: "Neue deutsche Weinerlichkeit".
Viele würden ihre Wahrheit vermutlich gern ohne Widerrede verkünden, statt sich selbst im Gespräch mit anderen zu überprüfen. Die sozialen Medien fördern dieses Bedürfnis: Handy vors Gesicht halten, und schon verkündet jemand das Wort Gottes. Die Kanzel ist heute der Account bei Instagram und Tiktok. Jeder ist Experte für irgendetwas. Die Expertise basiert meist auf Followerzahlen, selten auf Kompetenz. Ich sende, also bin ich. Irgendwer wird schon applaudieren. Die Opferrolle funktioniert besonders gut, dicht gefolgt vom Anprangern vermeintlicher Täter. Die Anfeindungen der Gegenseite trägt man wie eine Trophäe vor sich her.
Der Fall Gil Ofarim war der deprimierende Gipfel dieser Opferstilisierung. Ofarim hatte den Diskurs simuliert und auf seine Mechanik gesetzt. Jetzt gestand er, sein Video über den vermeintlichen Antisemitismus des Hotelmitarbeiters sei ein Fake gewesen. Er hat damit auch die medialen und sozialmedialen Debattenreflexe offengelegt. Jeder progressive Linke hatte sich nach Veröffentlichung des Videos mit Ofarim solidarisch erklärt, noch bevor die Beweislage klar war. Man will um jeden Preis auf der richtigen Seite stehen, wenn es um Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus oder Ableismus geht. Manchmal ist es ernst und richtig, manchmal aber profilieren sich diese Netzaktivisten für ihr jeweils neues Produkt, ein Buch, ein Podcast, ein Album. Ofarim hat Schaden angerichtet. Dieses verfluchte Tempo der Urteilskraft in unserer Zeit!
Wir für die anderen – wie selten das geworden ist!
Als Pegida marschierte, wollten viele Menschenrechtskämpfer mit bester Intention und wenig Plan gegen den voranschreitenden Rechtsruck vorgehen. Es fing an mit den Demos unter dem Hashtag "Wir sind mehr". Mehr sind in manchen Bundesländern bald die Rechten, so dumm war dieser Slogan.
Antirassismus-Arbeit ist wichtig für jede Demokratie. Teile der Bewegung haben sich jedoch ideologisch verrannt, das zeigt die Diskussion seit dem 7. Oktober. Ich gebe zu, dass ich derzeit ratlos bin. Buchpreise werden nicht vergeben, Ausstellungen abgesagt, die Aufarbeitung der Documenta ist das Protokoll einer fortwährenden Hilflosigkeit. Wie soll uns ein Dialog gelingen, wenn immer irgendwer schreit, er könne nicht mehr sagen, was er denke?
Es war ein Fehler, die Gruppenzugehörigkeiten vor die sachliche Diskussion zu stellen. Man schuf Distinktionsmerkmale und mit ihnen Gruppen, die danach aufeinander losgingen, beispielsweise Boomer gegen Gen-Z. Man tat so, als gehöre man nur einer Gruppe an; die anderen wurden zum Feindbild. Kürzlich sah ich ein brillantes Video einer britischen Gewerkschaft, in dem sich eine junge Schwarze über Boomer empört und in dem ein alter weißer Mann über die Gen-Z wettert. Doch beide schreien sie nicht gegen, sondern für die andere Gruppe: Sie sorge sich um die schlechte Versorgung der Boomer. Er um die miesen Löhne für die Jungen. Wir für die anderen – wie selten das geworden ist!
Immer mehr Bundesbürger seien bereit, rechtsradikal zu wählen, heißt es in Umfragen. Wieso verliert man sie? Wieso gewinnt Desinformation gegenüber soliden Diskussionen? Sicher auch, weil in zu wenigen Diskussionen die Pluralität der Meinungen zugelassen wird. Für Jugendliche spielt Tiktok eine größere Rolle als die klassischen Nachrichten; umso schlimmer, wenn dort etwa der antisemitische Brief von Osama bin Laden trendet und ihr Weltbild prägt. Slogans sind einprägsam, aber noch lange keine Antwort.
Die grelle Empörung sollte für die Menschenfeinde reserviert sein
Es gibt ihn, den Kulturkampf. Eine Gruppenidentität ersetzt nicht das Nachdenken über die Komplexität von Problemen. Eine Meinung ist keine Vereinsmitgliedschaft. Teile der zunächst progressiven Linken haben sich inzwischen in ihrem Weltbild eingeschlossen, wie auch das Thema Gendern zeigt. Gendern sollte freiwillig sein, heißt es. Doch sobald jemand das Gendern ablehnt oder behauptet, es gebe einen Zwang, wird entgegnet, er sei rechts und ein expliziter Zwang bestehe nicht. Aber ich saß durchaus schon in Gremien, die Bewerbern ihre Fortschrittlichkeit absprachen, weil diese nicht genderten. Das ist keine rechte Wahnvorstellung. Wenn progressive Linke die Meinungen anderer nur abtun, radikalisiert sich die andere Seite auch.
Auch Erfolg und bisherige gute Taten schützen nicht: Die schwarze Erfolgsautorin Chimamanda Ngozi Adichie wurde von manchen Aktivisten als TERF, als Trans-Feindin abgestempelt, weil sie gesagte hatte, dass Transfrauen nun mal Transfrauen seien. Sie fordern, ihre Bücher nicht mehr zu lesen. Es sei der Kampf um Menschenrechte für Transfrauen. Adichie hatte sich explizit nicht gegen deren Rechte ausgesprochen, sondern wollte über ihre Erfahrungen sprechen.
Nach seiner letzten Moderation von "Wetten, dass..?" jammerte sich der Show-Millionär Thomas Gottschalk etwas weinerlich aus seiner Karriere und sagte, er könne vor Kameras nicht mehr sagen, womit er zu Hause seine Frau behelligt. Im Netz rollte schnell eine Lawine: Er spiele der AfD in die Hände, hieß es. Doch diese Empörung tut das genauso. Der öffentliche Raum, in dem man einen solchen Satz gelassen auslacht, mit den Schultern zuckt und als Eigenheit stehen lässt, wird immer kleiner. Auf Gottschalks Gejammer folgte sofort einer dieser Hohl-Slogans: Man darf alles sagen, man muss nur mit Widerspruch rechnen. Ja, okay. Doch was Widerspruch genannt wird, ist immer häufiger eher ein Kübel voll Abwertungen, gefolgt von der Frage: "Warum bietet man so jemandem noch eine Plattform?" So jemandem! Wie schnell ist man ein Niemand in diesem Land. Natürlich eskaliert das Gespräch so. Schwierige Fragen sind kaum mehr zu meistern, wenn nirgends Großzügigkeit oder Gelassenheit herrscht. Die breite Palette an demokratischen Meinungen zu ertragen, zu kommentieren, ohne Menschen in Schubladen zu stecken, das geht uns schon zu lange ab. Die grelle Empörung sollte für die Menschenfeinde reserviert sein. Sonst könnte, nach hundert Fehlalarmen, der echte Feueralarm im Getöse untergehen.
Und was denken Sie daran ?