Generationen sind mit den Märchen der Gebrüder Grimm groß geworden. Die mitunter grausamen Geschichten sind voll von Symbolik und deuten auch historische Missstände an. Bei "Hänsel und Gretel" geht es um versuchten Kindsmord, Kannibalismus und die böse Stiefmütter.
Liebig’s Fleischextrakt wurde auch durch seine Sammelbilder berühmt. Einige davon zeigen Szenen aus "Hänsel und Gretel", einem Märchen der Gebrüder Grimm.
Die Geschichte beginnt mit einer Ungeheuerlichkeit. Abends im Bett liegt ein armer Holzfäller, der sich den Kopf darüber zerbricht, wie er seine zwei Kinder und seine Frau noch durchfüttern soll. Es reicht einfach nicht für alle. Was soll er bloß tun? "Weißt du was, Mann", antwortete die Frau, "wir wollen Morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist, da machen wir ihnen ein Feuer an, und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit, und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los."
Mit diesem vorsätzlichen Kindsmord beginnt eines der beliebtesten Märchen der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm: Hänsel und Gretel. In der ersten Fassung (hier können Sie das Märchen nachlesen) von 1812 war es noch die leibliche Mutter, die die Kinder loswerden wollte. Ab 1843 ersetzten die Grimms sie durch eine Stiefmutter. Auch durch solche Feinheiten verfestigte sich das Bild der bösen Stiefmutter in der Welt. Doch in der Geschichte der beiden ausgesetzten Kinder werden noch weitere Motive aufgeführt, die heute wohl kaum in pädagogisch einwandfreien Erzählungen Raum finden würden: Hungersnot, Kannibalismus, Tod.
Hungern im Märchen
Am Anfang des Märchens steht der Hunger. Bei einem Märchen "wie 'Hänsel und Gretel', wo es um Hungersnot geht, wo es um Kannibalismus geht, da müssen historische Hintergründe mit reinschwingen aus einer Zeit, von der wir wissen, aus historischen Quellen, dass es dort zu furchtbaren Hungerkatastrophen kam. Und immer in solchen Zeiten von furchtbaren Hungerkatastrophen[...] kam es zu diesen Fällen von Kannibalismus und sogar, das größte und schlimmste Tabu der Menschheitsgeschichte überhaupt, zu Fällen von Kindskannibalismus", erklärt der Autor und Literaturwissenschaftler Michael Maar im "Deutschlandfunk". Das Märchen selbst haben die Gebrüder Grimm mündlich aufgeschnappt, es soll aus Hessen stammen. Laut der Volkskundlerin Sabine Wienker-Piepho gibt es lokale Varianten dieses Märchens - sogar auf Madagaskar.
Dass Hunger zu Zeiten der Grimms immer wieder ein Problem war, ist historisch belegt. Die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) war durchzogen von Hungernöten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führten kalte Winter immer wieder zu Missernten, die Jahre zwischen 1770 und 1772 waren in Europa eine Ernte-Katastrophe. Und der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien verlieh den Jahren 1816/1817 den Titel "Jahr ohne Sommer". Hunger war alltäglich.
Märchen transportieren menschheitsgeschichtliche Tabus, meint Maar. Das sehr grausame Märchen würde sich einbrennen in der Kindheit, eines "der eindrücklichsten Märchen überhaupt", so Maar zum "SRF". Der Literaturexperte stellte sich die logische Frage: Warum sollte die Hexe die Kinder fressen wollen? An Kalorien mangele es ihr ja nun nicht, sie lebe schließlich in einem Zuckerhäuschen. Seine Theorie: Märchen gehen auf alte Geschichten aus frühester Zeit zurück, spiegeln Erlebtes aus vergangenen Zeiten. Er verortet die Geschichte von Hänsel und Gretel im Dreißigjährigen Krieg - einer Zeit, in der es zu entsetzlichen Hungersnöten kam. Und solch schreckliche Zeiten würden auch eines der schlimmsten Tabus möglich machen: Kannibalismus.
Sind Mutter und Hexe eine Person?
Und Maar geht sogar noch weiter: Er glaubt, dass die (Stief-)Mutterund die Hexen im Grunde eine Person sind. Und das den Kindern bei der Hexe das bevorsteht, was ihnen sonst zu Hause hätte blühen können - nämlich der Kannibalismus durch die Eltern. Maar stützt seine Theorie darauf, dass die Sprache der beiden Frauenfiguren im Märchen sehr ähnlich ist. Ein weiteres Argument: Als die Kinder im Märchen die Hexe im Ofen verbrennen und nach Hause gehen, ist auch die Mutter gestorben. Der Triumph der Kinder über eine zweigeteilte Frauenfigur, so der Experte.
Eine streitbare These, ja. Aber Maar räumt ein: Er glaubt nicht, dass dieses Märchen bewusst so angelegt wurde. Die Grimms haben nicht vorsätzlich diese Frauenfiguren entwickelt. Vielmehr würden in Märchen solche Interpretationen mitschwingen. "Das Geheimnis der Märchen ist, dass sie solche Glutkerne mittransportieren", so Maar im Radio-Interview. Märchen würden Tabus und Grausamkeiten der Menschheitsgeschichte zwar thematisieren, aber eben auf eine besondere Art, die es den Zuhörern möglich macht, sie noch zu goutieren.
Die Urangst der Kinder
Auf Kinder hat das Märchen einen anderen Einfluss, denn "Hänsel und Gretel" thematisiert Urängste von Kindern - und deren Sieg über diese. Das Verlassen werden von den Eltern, der dunkle Wald, eine böse Hexe - aber auch der Triumph über die eigenen Ängste. Der Psychoanalytiker Eugen Drewermann sieht kindliche Urangst im Mittelpunkt der Geschichte. "Ein Kind, das durch sein Dasein die Eltern überfordert, muss lernen, anspruchslos zu sein, ohne jegliches Bedürfnis. Dadurch hofft es, doch noch akzeptiert zu werden", so Drewermann zu "Radio Bremen". "Beim nächsten Mal opfert Hänsel sogar das Brot, welches ihm die Mutter als letztes auf den Weg mitgab.Totalverzicht auf eigene Nahrung als Bedingung, zur Mutter zurückzufinden. Mehr Selbsteinschränkung ist für ein Kind kaum möglich."
Minimalistische Fotografie: Erkennen Sie diese Märchen an einem Bild?
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Gemeint ist natürlich Schneewittchen.
Richtig, gesucht wird natürlich Rapunzel.
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Gemeint ist Aschenputtel. Wir lassen aber auch Cinderella gelten...
Die richtige Antwort ist natürlich Sternentaler.
Eine rote Rose, eine weiße Rose. Welche Geschichte ist wohl gemeint?
Hänsel, Gretel und die Naschkatzen
In heutiger Zeit glauben Eltern in dem Märchen einen moralischen Fingerzeig zu sehen, der Völlerei kritisiert. Wer sich ungefragt mit Süßigkeiten vollstopft, bekommt Probleme - so wie Hänsel. Der Ernährungsexperte und Autor Udo Pollmer sieht das anders. Die im Märchen verborgene Botschaft habe wenig mit Hunger, Zuckerzeug und Übergewicht zu tun. "Das Märchen ist weder grausam wie manche Pädagogen glauben, noch eine Story zwischen Hunger und Mästung, wie einige Psychologen meinen. Hänsel und Gretel macht kleinen Kindern Mut, verleiht ihnen Zuversicht! Die Gebrüder Grimm bescheinigten ihren Texten eine 'segnende Kraft', so Pollmer zum "Deutschlandfunk".
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