Zwei Jahre Letzte Generation auf den Straßen: Ist die Kleberei bald vorbei, Frau Johnsen?

25.01.2024 09:58

Am 24. Januar 2022 haben sich die Klimaaktivisten zum ersten Mal auf die Straßen geklebt. Letzte-Generation-Sprecherin Lina Johnsen zieht Bilanz – und verrät dem stern, wie es mit den Protesten weitergeht.

Frau Johnsen, am 24. Januar 2022 haben sich die Klimaaktivisten der Letzten Generation zum ersten Mal auf die Straße geklebt. Sie waren auch dabei?
Nicht ganz, ich bin zum ersten Mal im März 2022 in Freiburg auf die Straße gegangen. Damals habe ich das erste Mal so was wie Klimaangst gespürt. Mir war klar, dass ich mich mich politisch engagieren wollte, um endlich Selbst wirksam zu werden. Und so bin ich über eine Freundin zur Letzten Generation gekommen. Erst war ich als Deeskalationsperson vor Ort und habe den Autofahrern den Protest erklärt.

Das war damals bestimmt ungefährlicher als heute.
Ich hatte großen Respekt davor, weil unklar war, wie die Menschen reagieren würden. Aber sie waren überraschend gefasst – auch weil die grüne Bubble in Freiburg groß ist. Besonders geprägt hat mich die Begegnung mit einem Autofahrer. Ich habe an seine Fensterscheibe geklopft, mich für den Stau entschuldigt und ihm die Lage erklärt. Er blinzelte, dann sah ich Tränen aus seinen Augenwinkeln kullern. Ich dachte erst, er weint wegen der Störung. Aber er hat sich bei mir für die Blockadeaktion bedankt. Ich war sprachlos. Das hat mich motiviert, weiterzumachen.

Glauben Sie, dass der Autofahrer heute genauso gerührt hinterm Steuer sitzen würde?
Das kann ich nicht sagen. Aber die Menschen haben mittlerweile verstanden, dass die Klimakatstrophe auch Deutschland erreicht hat und wir uns alle nicht mehr abschotten können.

Das ist aber nicht der Letzten Generation zu verdanken, sondern der Fridays-for-Future-Bewegung.
Sie haben es mit Schule schwänzen – übrigens auch eine Art des zivilen Ungehorsams – geschafft, 1,4 Millionen Menschen auf die Straße zu bringen. Das war ein Erfolg. Dafür wurde die Bewegung auch von der Politik gelobt. Aber FFF hat auch gezeigt, dass Großdemos nicht ausreichen, um das System zu ändern.

Wir haben die Menschen dazu gezwungen, sich zu positionieren.

Die Letzte Generation macht es besser?
Wir haben den nächsten Schritt gewagt und den zivilen Widerstand in die Gesellschaft getragen. Es gibt einen Action Movement Plan, an dem wir uns orientieren. In der ersten Phase wird auf das Problem aufmerksam gemacht und das hat FFF geschafft. Aber wir haben die Menschen dazu gezwungen, sich zu positionieren. Erst dann kommt es zu einer Phase der unignorierbaren Störung, in der die Machstrukturen herausgefordert werden. Eine gesellschaftliche Spannung ist nötig, damit sich etwas verändert.

Sie wollen also die Bürger gegen die Regierung aufwiegeln?
Es ist normal, dass Gesellschaften in Demokratien Dinge von der Regierung einfordern. Das war bei den Bürgerrechts- und Frauenbewegungen schon so. Missstände wurden von unten an die Politiker herangetragen und es wurde so lange dafür eingestanden, bis sich etwas verändert hat.

Von der Lebensmittelverschwendung, übers Tempolimit zu sozialer Gerechtigkeit und einem Systemwechsel: Sie merken selbst, wie abstrakt Ihre Forderungen geworden sind. Das nimmt den gemeinen Bürger doch gar nicht mehr mit.
Strategisch ist es klug, Ziele zu wählen, an denen sich der Erfolg klar abzeichnen lässt. Beispiel Lebensmittelverschwendung: Wir haben anfangs ein Lebensmittel-retten-Gesetz gefordert. Heute ist es vielen Supermärkten verboten, genießbares Essen zu entsorgen. Das könnten wir als Erfolg verbuchen, auch wenn er erst viel später eingetreten ist. Ein Tempolimit wäre auch nach wie vor toll, weil wir damit ohne Aufwand CO2 einsparen. Oder ein Neun-Euro-Ticket. Aber wir wissen auch, dass einzelne Maßnahmen nicht zu dem grundlegendem Wandel führen, den wir brauchen.

Hätte es nicht mehr gebracht, Regierungsflieger, -autos und -gebäude zu blockieren? Oder die Kuppel auf dem Reichstag orange zu färben? Das wäre mal ein Hingucker gewesen.
Wenn Sie gute Ideen haben, kommen Sie doch in unser Strategieteam! Aber im Ernst: Wir haben schon Regierungswagen blockiert, wir standen vor dem Bundestag, haben Politiker zur Rede gestellt, Einfahrten blockiert. Das hat nur niemand mitbekommen – ganz im Gegensatz zu den Straßenblockaden. Eine gewisse Betroffenheit der Öffentlichkeit ist wichtig, um eine nationale Debatte über den tatsächlichen Stand der sozialen Ungerechtigkeit in der Klimakatastrophe auszulösen.

Im Vergleich zu den Straßenblockaden waren Sie aber deutlich seltener im Regierungsviertel aktiv. Ein wenig mehr Durchhaltevermögen hätte wirklich nichts gebracht?
Die Bürger finden das vielleicht gut, aber am Ende bringen solche Proteste nichts, weil sich die Menschen nicht selbst damit auseinandersetzen müssen. So können wir die Gesellschaft nicht verändern.

Sie haben nicht nur geklebt, sondern auch gehungert, containert, Protestmärsche organisiert, Kunstwerke besudelt, Gebäude und Denkmäler orange gefärbt und Rollfelder gestürmt. Welche Protestaktion mochten Sie am liebsten?
Jede ist auf ihre Art einzigartig, deshalb würde ich sie nicht einzeln bewerten. Wegen unserer Kunstaktionen beispielsweise gab es einen riesigen gesellschaftlichen Aufschrei, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und in Frankreich. Alle wurden plötzlich zu KunstfanatikerInnen, haben sich empört, geweigert sich die Botschaft und Erklärungen dazu anzuhören. Ich fand das entlarvend. Alle regen sich wegen beschmierter Kunst auf, aber dass unsere Lebensgrundlage mutwillig zerstört wird, nimmt man einfach hin. Natürlich war die Aktion sehr intellektuell und abstrakt, deswegen kann ich verstehen, dass wir einige Leute damit abgeschreckt haben.

Umfragen haben gezeigt, dass wir anschlussfähiger werden müssen.

Was ist mit den anderen Aktionen?
Die Blockaden auf den Rollfeldern waren näher an den Menschen und am Kern des Problems dran. Aber finde mal Leute, die sich das trauen. Am effizientesten waren die einfachen Straßenblockaden. Es ist traurig, dass es solche Störungen braucht. Aber wir reagieren damit auf das politische Versagen. Ich würde mir auch wünschen, dass in einer Demokratie 1,4 Millionen Menschen mit bunten Plakaten ausreichen würden, um die Regierung an das Einhalten ihrer eigenen Werte und Gesetzte zu erinnern.

Sie haben also nicht das Gefühl, wirklich etwas angestoßen zu haben?
Ich sage nur, dass die Demonstrationen nicht ausgereicht haben. Deswegen mussten wir überhaupt erst so weit gehen. Aber ja, wir können klare Erfolge vorzeigen.

Die da wären?
Bildungsarbeit! Wir haben über 1000 Vorträge über die Klimakatastrophe gehalten. Mehr als 10.000 Menschen haben uns dabei zugehört. Wir haben mehr als 250 Trainings zum Thema Gewaltfreiheit durchgeführt. Wir sitzen nicht nur auf der Straße, sondern haben Strukturen aufgebaut. Zum Beispiel "Küchen für alle" in verschiedenen Städten, wo Leute zusammenkommen und sich austauschen können. Wir haben eine eigene Rechtsberatung, die uns bei Gerichtsprozessen unterstützt. Es gibt psychologische Betreuung, wir bieten Workshops an. Wir haben uns vernetzt mit vielen Säule der Gesellschaft, mit Menschen aus dem Gesundheitswesen, dem Handwerk, Kirchen, politischen Gruppen und sogar der Polizei. Wir erhalten Spenden. Es ist interessant, dass uns immer wieder die Frage gestellt wird, wie erfolgreich wir waren. Fragen Sie dasselbe doch mal die Regierung.

Wenn man öffentlich für etwas Verantwortung übernimmt, dann ist die Erfolgsfrage eine ganz normale Reaktion, die an alle gerichtet wird – an Politiker genauso wie an Klimaaktivisten.
Unsere Aufgabe ist es, die Bürger in diesem Land auf die verfehlte Klimapolitik aufmerksam zu machen. Aber natürlich schauen wir, wie viele Menschen unsere Aktionen und Forderungen unterstützen oder ablehnen. Gerade sehen wir, dass wir nicht mehr Menschen für uns gewinnen können. Den Peak haben wir erreicht.

Was bedeutet das für die Letzte Generation?
Unsere eigenen Umfragen haben gezeigt, dass wir anschlussfähiger werden müssen. Die Leute sollen keine Angst vor Repressionen haben, wenn sie auf die Straße gehen. Wir müssen uns jetzt mit der Frage beschäftigen, ob wir so weitermachen können wie bisher, oder ob wir etwas ändern müssen.

Sinnkrise bei der Letzten Generation?
Ich würde es eher Umstrukturierung nennen. Es ist ganz normal, dass eine Widerstandsbewegung nach zwei Jahren Bilanz zieht, um zu sehen was sie erreicht hat und was sie noch erreichen möchte.

Deutschland darf sich also auf neue Proteste gefasst machen?
Ja. Der friedliche Widerstand auf der Straße wird bleiben, aber wir verändern ihn so, dass mehr Menschen mitmachen können.

Die Kleberei ist demnächst vorbei?
Darüber beraten wir gerade.

Gibt es schon eine Tendenz?
(lacht) Das werden wir sehen. Uns geht es vor allem darum, mehr Menschen einzubinden, die bereit sind, für ihre Werte auf der Straße einzustehen. Wir wollen uns dafür auch stärker regionalisieren, um mehr Menschen auch in kleineren Städten oder auch aus Dörfern für uns zu gewinnen.

Wir leben in einer Verdrängungskultur.

Wie ist die Stimmung bei den Klimaaktivisten?
Sehr gemischt. Viele haben verstanden, dass Wiederstandleisten ein Langzeitprojekt ist, es ok ist nicht sein ganzes Leben dafür zu opfern, sondern auch mit Arbeit und Familienleben und vor allem Pausen vereinbar ist. Es ist sehr anstrengend, sich dauerhaft mit dem Kernproblem unserer Zeit und auf der Hand liegenden Lösungen zu beschäftigen und zu sehen, wie träge die Regierung daran arbeitet. Wir leben in einer Verdrängungskultur. Einige Klimaaktivisten sind deshalb erschöpft. Wir versuchen natürlich gegenzusteuern, aber wie bei allen anderen Gruppen merken manche Leute bei uns auch, dass sie eine Pause brauchen. 

Hätten Sie gedacht, dass Sie sich nach zwei Jahren noch immer auf die Straße kleben?
Ein Systemwechsel findet nicht von heute auf morgen statt. Die Frauenbewegung hat gezeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen. Auch wenn es manchmal dauert.

Es hat 70 Jahre gedauert, bis Frauen in Deutschland wählen durften. So viel Zeit haben wir beim Klimawandel nicht. Jetzt rückt die Bewegung wegen Bauernprotesten und Demos gegen Rechts wieder in den Hintergrund. Wie wollen Sie sich wieder ins Rampenlicht schieben?
Wir werden bald unsere Pläne und unsere neue Strategie verkünden. Dabei wird es stark darum gehen, wie jeder und jede Wiederstandleisten kann und warum das in Zeiten schreiender sozialer Ungerechtigkeiten und wachsendem Faschismus immer wichtiger wird. 

Quelle