Zehntausend Schritte

01.06.2020 16:03

Stehen Sie auf und gehen Sie ums Haus, in die Stadt, in die Natur! Das weitet die Weltsicht, senkt Stress, Blutdruck und Corona-Frust. Ein Loblied auf die heilende Kraft des Spaziergangs

Wohin wollen wir gehen?“, fragte ich den Freund. „Wir gehen einfach“, antwortete er. Die Kneipe war geschlossen, das Gym ebenfalls, und im Supermarkt kannten wir schon jedes Regal. Es war Zeit zu gehen.

Seit die Corona-Gebote den Alltag außer Kraft setzen, streife ich täglich durch die Straßen von Berlin. Mobility im Virozän. Gehen statt jammern.

Zwei Stunden für 10.000 Schritte

Bei jedem Ausgang versuche ich, zehntausend Schritte zu schaffen. Mindestens. Das sind bei meiner Größe von 1,80 Metern etwa 6,5 Kilometer. Dafür brauche ich, inklusive rasten, gucken, träumen und ab und zu etwas ins Handy tippen, etwa zwei Stunden.

Der Freund, der mich begleitete und von dem ich am Beginn dieser Stadtwanderung eine Richtungsentscheidung einforderte, bin ich übrigens selbst. Ich gehe gern allein. Ohne Ziel, ohne Plan. Ich lasse mich führen vom Navi namens Neugier.

Die Stadt leidet noch immer unter Atemnot, auch wenn die meisten Geschäfte stotternd Einlass gewähren. Die Fassaden sind müde, nur selten öffnet sich eine Tür. Kinos im Koma, wie Kulissen eines gerissenen Films. Nur im Supermarkt ist Maskenball. Eine Kundin an der Fleischtheke zuckt zusammen, weil der Verkäufer das Hack ohne Handschuhe aus der Theke holt. Auf den Spielplatzbänken feiern rotbackige Säufer. Der explodierende Flieder lacht uns alle aus.

Mit den Füßen schaut man genauer. Das war immer schon so.

Im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. unterrichtete Aristoteles seine Schüler, die Peripatetiker (zu Deutsch: die Herumwandler), beim Aufund Abgehen in einer zum Garten hin offenen Wandelhalle (Altgriechisch: Peripatos) des Gymnasiums. Der aufrechte Gang in Bewegung, das lässige, spielerische Rumhampeln, war für Aristoteles das Alleinstellungsmerkmal des denkenden Menschen gegenüber den instinktgetriebenen, aufs nackte Überleben programmierten Vierbeinern.

Neurowissenschaftler haben eine schlüssige Erklärung: Das menschliche Gehirn ist überhaupt erst durch Bewegung entstanden. Die Füße mit ihren jeweils 26 Knochen und über 70.000 Nervenenden an der Sohle sind, evolutionsbiologisch gesehen, die Eltern der grauen Zellen. Wir nehmen unsere Umgebung beim Gehen viel deutlicher und ganzheitlicher wahr als im Ruhezustand.

„Ich kann nur beim Gehen denken“, schrieb folgerichtig der französische Naturphilosoph Jean-Jacques Rousseau, „bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken.“ Auch Immanuel Kant, der wirkmächtigste Denker der deutschen Aufklärung, benötigte den Spaziergang als Brainbooster. Jeden Abend, pünktlich um 19 Uhr, trat er seinen ausgedehnten Marsch durch die Gärten von Königsberg an. Er formulierte es so: „Wenn man spazieren geht, so ist das Spazierengehen selbst die Absicht, und je länger es ist, umso angenehmer.“

Spaziergehen galt früher als Statussymbol

Zehntausend Schritte. Ich gehe und fühle, dass der Wind nicht nur ein Freund ist. Dass die Birkenpollen fliegen. Dass die interessantesten Wege krumm sind. Dass der Boden sich ständig ändert: Teer, Gehwegplatten, Kopfsteinpflaster, Rasen, Schotter, Kiesel. Dass die Straße die Seele massiert.

Die Worte der Philosophen Rousseau und Kant schmückten den Lifestyle des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert: Das Spazieren war damals zum status-trächtigen Zeitvertreib der gehobenen Mittelschicht geworden. Das gemeine Volk schuftete auf dem Feld oder an der Werkbank, betrank sich danach und fiel in den Schlaf. Zu Fuß gingen bis dahin nur die Adeligen in ihren Schlossgärten und die Ärmsten, die sich kein Pferd leisten konnten.

Nun aber zeigte eine neue Klasse, dass sie die Zeit und die Mittel hatte, sich in den Städten öffentlich und adelsgleich dem gepflegten Schlendern hinzugeben. Beim Spaziergang in der Öffentlichkeit dokumentierte man Familienglück oder begründete, walking & talking, geschäftliche und geschlechtliche Verbindungen.

Das Leben dauert länger, wenn man geht - in mehrfacher Hinsicht

Mit den Bürgern und Philosophen zogen auch die Soziologen und Dichter die Wanderschuhe an. Literatur lebt von Umwegen, Irrwegen, Abgründen. Der Schreibende erhofft nie weniger als die Begleitung durch den Leser. Schritt für Schritt. Wort für Wort. Das gilt von Goethe („Wilhelm Meisters Wanderjahre“) über Walter Benjamins „Passagen-Werk“ bis zum Literaturnobelpreisträger Peter Handke, der seine Notizbücher in der Hosentasche mit sich trägt, um beim Wandern schreiben zu können.

In seinem Märchen „Die Abwesenheit“ textet Handke die vielleicht schönste Lobpreisung des Gehens: „Nur im Gehen öffnen sich die Räume und tanzen die Zwischenräume! Nur im Gehen drehe ich mich mit den Äpfeln im Baum. Nur dem Gehenden wächst ein Haupt auf den Schultern. Nur der Gehende erfährt die Ballen an seinen Füßen. Nur der Geher spürt einen Zug durch den Körper… Nur der Geher holt sich ein und kommt zu sich. Nur was der Geher denkt, gilt.“

Die 10.000-Schritte-Regel erfand kein Arzt, sondern die Werbeindustrie

Die Idee der zehntausend Schritte stammt aus einer Marketingabteilung. Vor den Olympischen Spielen 1964 in Japan brachte die Firma Yamasa das welterste kommerzielle Pedometer, einen Schrittzähler mit Namen Manpokei (Japanisch für „zehntausend Schritte“), auf den Markt. Das Produkt ist längst vergessen. Die zehntausend Schritte aber gelten als weltweit gültige Maßeinheit.

„Das Leben dauert länger, wenn man geht“, lautet ein Schlüsselsatz im Buch „Gehen. Weiter gehen“ (Insel-Verlag), in dem der Abenteurer Erling Kagge sämtliche Formen der bipedalen Fortbewegung feiert - Spazieren, Flanieren, Schreiten, Wandeln, Wandern, Pilgern.

Schon zehn Kilometer Gehen in der Woche reduziert Demenz-Risiko erheblich

Der Norweger lief als junger Mann erst zum Nordpol, dann zum Südpol und bestieg schließlich den Mount Everest. Mittlerweile, 57 Jahre alt, ist er erfolgreicher Verleger und Kunstsammler (und geht natürlich jeden Morgen mindestens 30 Minuten zu Fuß in sein Büro im Zentrum von Oslo). Kagges doppelte Wahrheit: Ein Spaziergang dehnt einerseits das subjektive Zeitempfinden, lässt die Minuten also langsamer verrinnen, und dient gleichzeitig der objektiven Lebensverlängerung, weil Gehen Erkrankungen vorbeugt oder sie mildert.

Alzheimer, Diabetes, Depression, Herzerkrankungen - zahlreiche Studien belegen die Heilkraft des Spaziergangs. Die Universität von Pittsburgh fand in einer Studie heraus, dass schon zehn bis 15 Kilometer Gehen in der Woche das Risiko, an Demenz zu erkranken, um 40 Prozent reduziert. Bei Diabetikern bewirken schon 30 Minuten Gehen nach der Hauptmahlzeit eine relevante Senkung von Blutdruck und Blutzuckerspiegel.

In der Klinik der zwei Beine wird fast jede Maladie therapiert. Auch die Krankheit Misstrauen.

Zwei Staatsmänner finden Frieden - beim Spaziergang

Ich weiß nicht, wie viele Schritte Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Juli 1990 am Ufer eines reißenden Flusses im Kaukasus miteinander gegangen sind. Ich weiß aber, dass nebeneinander zu gehen den Herzschlag, den Atem und möglicherweise auch die Gehirnströme synchronisiert.

Der deutsche Bundeskanzler trug an diesem Sommertag vor 30 Jahren eine Strickjacke überm weißen Hemd, der Generalsekretär der KPdSU hatte einen Pullover übergezogen. Sie sprachen über Privates, Familiengeschichte und Fußball.

Während am Konferenztisch jedes Gespräch sehr schnell zur Konfrontation und zum Hahnenkampf wird, läuft man beim Spazieren in dieselbe Richtung. Die Worte folgen dem Rhythmus der Schuhe. „Keiner von uns hatte Lust, in diesem Augenblick über große Politik zu reden“, hat sich Kohl später erinnert, „und so plauderten wir über Gott und die Welt.“ Kurze Zeit nach diesem Spaziergang stimmte die Sowjetunion unerwartet und friktionsfrei der Souveränität und NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinten Deutschlands zu.

Zehntausend Schritte. Ein immer wiederkehrendes Phänomen beim Spazierengehen ist, dass man sich, wenn man nur lange genug gelaufen ist, im Tal der Erinnerungen wiederfindet. Und so wurde ich neulich, auf einem meiner Corona-Wege, zum kleinen Jungen in Plastikstiefeln.

Ich bin knapp vier Jahre alt. Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag und eisig kalt am Kommunalfriedhof in Salzburg-Gneis. Schnee, so hoch habe ich ihn nie wieder liegen sehen. Flocken, so dicht haben sie nie wieder mein Gesicht umschwirrt.

Durch meinen gestrickten Fäustling spüre ich den Lederhandschuh des Vaters. Er trägt einen zweireihigen Salz-und-Pfeffer-Mantel, Schal und Hut. Gern hätte ich, dass er sich zu mir runterbeugt oder mich trägt, aber seine Stimme ist so fern, als würde er vom Untersberg herabschreien.

Dieser Vater nimmt mich mit zum Grab seiner ersten Frau. Dort soll ich die Eiszapfen vom Kreuz brechen und die rote Kerze im Grablicht anzünden. Der Friedhof. Die fremde Frau des Vaters im eisigen Grab. Das alles macht mir Angst. Meine Strümpfe sind kalt und nass, Schnee ist in die Stiefel gekommen.

Man sollte eine Abwrackprämie für Schuhe fordern

Der Vater verspricht mir heißen Tee, der würde mich wärmen, den bekämen wir bestimmt im Gasthof „König Ludwig“, wo er gern sein Bier trinkt, doch dorthin ist es weit. Ich aber will jetzt sofort nach Hause auf den Teppich unterm Christbaum, wo die ausgepackte Scalextric-Rennbahn liegt. Ich will eigentlich gar nicht mehr sein.

Die Tränen frieren, die Füße schmerzen, und doch werden die Schritte langsam irgendwie Gewohnheit, und es stellt sich sogar so etwas wie Geborgenheit ein. Der große Vater und das kleine Ich marschieren Hand in Hand durch das Dickicht der Flocken. Ein Team im Sturm und ein großes Ziel: der heiße Tee. Endlich wird dann der „König Ludwig“ erreicht, doch leider ist geschlossen. Macht gar nichts, beschließt das Team, wir marschieren weiter ins nächste Wirtshaus.

Einfach weiterlaufen, es wird dann schon besser.

„Wohin wollen wir gehen?“ „Wir gehen einfach!“

Wenn der Himmel einstürzt, halten uns die Füße auf dem Boden. Man sollte eine Abwrackprämie für Schuhe fordern.

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