Beziehung mit Borderline: Wie der Gefühlskrebs beziehungsunfähig macht

19.11.2018 09:46

Menschen, die an Borderline leiden, haben oft Probleme mit Beziehungen. Hier erzählt eine Frau ihre persönliche Geschichte. 

Inhalt

  1. So schwer kann eine Beziehung mit Borderline sein
  2. Anzeichen für Borderline? Fantasien mit Fesselspielen
  3. Die erste Beziehung brachte Borderline zum Ausbruch
  4. Aus dem Hass wurde wieder Liebe
  5. Trotz Borderline: Neue Chance für die Liebe
  6. Mein Gefühls-Chaos führte zur Offenen Beziehung
  7. Borderline-Beziehung: Viel Streit, viel Sex
  8. Die Borderline-Dämonen machten mich kreativ
  9. Das Ende der Beziehung war wie ein Befreiungsschlag
  10. Wie Borderline sich auf meinen Job auswirkt
  11. Ich weiß nicht, ob ich je wieder eine Beziehung will

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPS genannt, ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung, die bei den Betroffenen extreme Stimmungsschwankungen von überglücklich bis todtraurig und verzweifelt auslösen kann. Viele Borderliner leiden unter einem gestörten Selbstbild und versuchen, die ständige innere Anspannung durch destruktives Verhalten abzubauen, sie stürzen sich in riskante Aktivitäten, werden nach außen aggressiv oder verletzen sich selbst.

So schwer kann eine Beziehung mit Borderline sein

Wie schwer es ist, als Boderlinerin mit massiven Ängsten vor dem Alleinsein oder einer instabilen Beziehung eine Beziehung zu führen, berichtet hier Leonie, 42, Anwältin aus Frankfurt am Main. Sie glaubt, dass die Borderline-Störung sie beziehungsunfähig gemacht hat.

Ein Auszug aus dem Buch "Konsequent ambivalent - 15 Frauen mit Borderline erzählen" von Julia Strassburg.

"Mein Exfreund hat mal behauptet, ich habe eine Gabe, vielleicht sogar eine Superkraft. Diese läge darin, Menschen durchschauen und für mich gewinnen zu können. Er hielt mich für überdurchschnittlich empathisch und feinfühlig. Wir waren gerade mal ein paar Wochen zusammen, als er das sagte. Damals wusste er noch nicht, wie sehr ich genau unter diesen Dingen litt und dass sie eine Kehrseite besaßen. Später machte er Bekanntschaft mit dieser.

Heute, fast 20 Jahre später, habe ich das Gefühl, dass er in gewisser Weise Recht hatte. Dies ist kein Versuch, meine Borderline-Störung zu glorifizieren. Ich bin keine Narzisstin, die versucht, etwas schönzureden, was mir und meinen Partnern jahrelang so viel Leid und Schmerz einbrachte. Es war ein langer Weg bis zu der Erkenntnis und schließlich dem Umgang mit meiner Störung. Ich bin Borderlinerin und bleibe es.

Viele sagen, dass Borderline heilbar ist. Diesen Leuten stimme ich nur bedingt zu. Borderline ist kontrollierbar, aber verlassen tun mich meine Dämonen nie ganz. Dies einzusehen war der härteste Schritt auf dem Weg aus dem Chaos. Der erste Schritt aber war die Diagnose selbst.

Wie meine Eltern mich zur Borderlinerin machten

Zum ersten Mal äußerte sich meine vermeintliche Superkraft in der Pubertät. Frisch gebacken, kam ich aus der Borderline-Fabrik meiner Eltern. Beide glaubten fest an die Ehe, auch wenn sie tagtäglich ihrem Konzept von Achtung und Ehrung widersprachen. Mein Vater, beruflich sehr erfolgreich, war fast nie zu Hause. Was im Nachhinein betrachtet, wahrscheinlich sogar gut für uns war. Meine Mutter dagegen war es immer. Sie war Hausfrau. Eine klassische Rollenverteilung also. Kam die Familie an den wenigen Wochenenden oder Abenden zusammen, gab es meistens Zoff. Das ging so weit, dass mein Vater auf uns einprügelte. Das meiste bekam aber meine Mutter ab.

Meine jüngere Schwester und ich waren meinem Vater nie genug. Eigentlich hatte er sich wohl zwei Söhne gewünscht. An allem, was wir taten, wurde herumkritisiert. Es gab »lustige« Spitznamen für uns. Beide waren wir recht schlank, wirkten nahezu unterernährt, obwohl wir nicht wenig aßen. So rief er uns selten beim Namen, sondern nannte uns lieber Gerippe oder Knochenmädchen.

Meine Mutter hingegen war klammernd und überprotektiv. Gab man sich diesem Prinzip hin, fütterte ihr Selbstbild, so blieb sie fürsorglich. Tat man es nicht, wurde sie zum Monster. Ich weiß noch, wie sich ihr gütiges Gesicht, von null auf hundert, in eine aggressive Fratze verwandeln konnte. Sie war einsam, fühlte sich von meinem Vater verlassen. Was nicht verwunderlich war, denn mein Vater betrog sie regelmäßig mit wechselnden Partnerinnen. Er ging nicht etwa offen damit um. Das nahm meine Mutter ihm ab, indem sie jeder Spur hinterherjagte, bis sie es herausfand. Weshalb sie ihn nicht einfach verließ, ist bis heute unklar. Sie blieb und tat sich damit an, was er ihr antat.

Als Ausgleich suchte sie sich immer wieder Personen, denen sie helfen konnte. Ständig saßen alte Menschen in unserem Wohnzimmer. Alte, vereinsamte Menschen – meine Mutter wollte sie alle retten. Auch der Rest unserer Familie schien seine Probleme mit der Harmonie zu haben. Ein gefundenes Fressen für das Helfersyndrom meiner Mutter. Eine Weile lebten mein Cousin und meine Cousine bei uns. Die Gründe dafür weiß ich nicht mehr genau, aber es gab ähnliche Probleme wie bei uns. Meine Mutter ging regelrecht auf in der Rolle der Glucke.

Wurde bei uns gestritten, versuchte sie hinterher, Witze darüber zu machen, und erwartete von uns, dass wir mitzogen. Ferner versuchte sie immer wieder, das Bild gerade zu rücken, das mein Vater zuvor von der Wand geschlagen hatte. Etwa, indem es ständig -Geschenke gab, oder ein Festessen. Einfach so. So hat sich das Prinzip einer Familie für mich aus Schmerz, Stress, Angst und Chaos zusammengesetzt, was hinterher bei einem guten Essen weggelacht wurde. Nähe und Distanz gingen Hand in Hand. Ich kannte nur Schwarz oder Weiß. Keine gute Grundlage für meine spätere Beziehungsfähigkeit.

 Anzeichen für Borderline? Fantasien mit Fesselspielen

Bis zu meiner Pubertät hatte ich zwar keinen gesunden, aber einen funktionierenden Umgang mit meinem Gefühlsleben. Wobei Verdrängung eine große Rolle spielte. Ich hatte gelernt, das ständige Auf und Ab als gegeben hinzunehmen, war taub und blind dafür geworden. Als Kind hatte ich die Möglichkeit, mich in eine andere Realität zu denken. Ich war zeitweise sogar glücklich, hatte Freunde und spielte viel in der Natur. Deshalb kam mir meine Familie nie so kaputt vor, wie sie es tatsächlich war. Außerdem kannte ich ja nichts anderes. Als ich meine erste Periode bekam, begannen mich erotische Fantasien zu verfolgen. Ich war mir nicht einmal sicher, wie Sex funktionierte.

Dennoch hatte ich Bilder von nackten sich wälzenden Menschen im Kopf. Ein orgiastisches Sexchaos. Freud wüsste sicher einiges darüber zu sagen. Ich aber denke, es war eine unterbewusste Verbildlichung meiner chaotischen Familie, angereichert mit ersten sexuellen Impulsen. Eine zweite Fantasie waren Fesselspiele. Das komplette Gegenteil der Orgie. Vielleicht war es der Wunsch, etwas in mir zur Ruhe zu zwingen, das Chaos zu bändigen.

 Die erste Beziehung brachte Borderline zum Ausbruch

Mit 16 lernte ich meinen damaligen Freund kennen. Wir gingen auf unterschiedliche Schulen, aber hatten denselben Freundeskreis. Vier Monate lang waren wir ein Paar. Eine wirklich kurze Zeit. Lang genug, um das, was in mir schlummerte, zum Leben zu erwecken. Alles hatte unschuldig und ganz normal begonnen. Nach vier Monaten fuhr er auf eine Schulfreizeit nach England. Drei Wochen sollte ich ohne ihn sein. Das schien mir unendlich lang. Der Abschied war dramatisch, ich weinte, klammerte mich an ihm fest, als ginge er für immer.

In der ersten Woche wartete ich jeden Abend vor dem Telefon meiner Eltern auf seinen Anruf. Hin und wieder klingelte es. Jedes Telefonat war voll von sehnsuchtsvollen Liebesschwüren meinerseits. In der zweiten Woche meldete er sich dann gar nicht mehr. Ich litt Höllenqualen, dachte an nichts anderes und schüttete mir jeden Tag Alkohol ins Hirn, um überhaupt klarzukommen. Mit seiner Rückkehr kam es noch härter. Ich bekam einen Anruf. Er hatte sich neu verliebt. Eine Klassenkameradin hatte ihm den Kopf verdreht.

Das Schlimmste daran war, dass er mir ständig über den Weg lief und seine neue Flamme präsentierte. Ich zerbröckelte in tausend Stücke. Jeden Tag aufs Neue. Bereits beim finalen -Telefonat hatte sich meine allumfassende Liebe in tiefen Hass gekehrt. Innerhalb von Sekunden. Wohin bloß mit dieser Intensität? Natürlich zu der Person, die in meinen Augen Schuld daran trug. Ich hasste ihn so sehr, dass ich meinen Hass kaum aushielt. Das Ganze nahm schizophrene Züge an, denn ich folgte ihm auf jede Party, tauchte überall auf, wo er war.

"Ich hatte Spaß daran, meinen Ex-Freund fertigzumachen"

In zwei Teile gerissen, wollte ich ihm nah sein und ihn gleichzeitig zerstören. Ich war nicht in der Lage, ihm positiv zu begegnen. Rache war mein Ziel. Er sollte leiden, wie ich litt. Also verbreitete ich Geschichten über ihn in unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Meine »Gabe«, andere Menschen für mich zu gewinnen und zu manipulieren, fand ihre abartige Bestimmung – denn alle glaubten mir. Nach nur wenigen Wochen hatte ich es geschafft, meinen Exfreund an den Rand unseres Freundeskreises zu verdrängen. Dass er litt, stand außer Frage. Ich genoss sein Leid, hatte Spaß daran, ihn fertigzumachen. Wenn auch nur kurzweilig.

Sein Gesichtsausdruck, die Enttäuschung, das Unverständnis, das darin zu lesen war, führte mich wieder auf die andere Seite. Im Grunde verletzte ich nicht nur ihn, sondern auch mich selbst. Eine Entschuldigung aber hätte ich niemals über die Lippen gebracht. Tief verwachsen mit meiner Rolle, war ich nicht in der Lage, diese wieder zu verlassen. Einige Male suchte mein Exfreund das Gespräch mit mir, wollte Klarheit schaffen. Keine Chance auf Versöhnung!

Stattdessen trank ich sehr viel Alkohol, begann, mich zu ritzen, bediente alle Klischees eines destruktiven Teenagers. Da lag es nahe, dass ich Gitarre in einer Punkrockband spielte. Nichts Großes, bloß eine Garagenband. Nun war ich tatsächlich ein unterernährtes Knochenmädchen, denn ich vergaß ständig zu essen. Schlimmer noch als meine Schwester, die Sängerin unserer Band. Zu dieser Zeit rauchte ich ziemlich viel. Auffallend oft hatte ich irgendwo Brandverletzungen. Ob ich diese bewusst oder aus Versehen herbeiführte, war egal. Ich begrüßte den Schmerz und seine Narben jedes Mal. Womöglich gab es niemals ein Versehen. Nur ein unbewusstes Handeln, das ich mir selbst und anderen als Versehen auslegte.

 Aus dem Hass wurde wieder Liebe

So verging fast ein Jahr, in dem ich meine erste Liebe nicht vergessen konnte. Und dann saß er mir plötzlich auf einer Party gegenüber. Aus unerklärlichen Gründen ließ ich es zu, dass wir ins Gespräch kamen. Wieder legte sich in meinem Innersten ein Schalter um und der Hass wurde gegen intensive Zuneigung eingetauscht.

Natürlich kamen wir wieder zusammen. Keine drei Tage später lagen wir uns wieder in den Armen. Wieder ganze vier Monate. Und wieder flog ich viel zu hoch, irgendwo über meinem selbstzerstörerischen Ich. Nach dieser Frist war es so weit. Mein Freund, scheinbar auch in einem Kreislauf zwischen Bleiben und Gehen, gefangen, verließ mich von heute auf morgen. Der perfekte Anlass für meine Dämonen, sich wieder meines Verstandes zu bemächtigen.

Permanentes Herzrasen, Schweißausbrüche, Panikattacken und andere körperliche Symptome waren meine ständigen Begleiter. Immer in Gedanken an meinen Exfreund, den ich hasste und gleichzeitig vermisste. Er bekam einen Platz in meinem Leben, obwohl er nicht mehr Teil davon war. Meine Kleidung suchte ich niemals aus, ohne darüber nachzudenken, ob sie ihm gefallen könnte. Auch alles andere machte ich von ihm abhängig. Irgendwo zwischen dem Wunsch, von ihm gesehen zu werden, und unendlicher Verbitterung. Bei allem, was ich tat, war er in meinem Kopf.

"Ich vertraute niemandem"

So setzte es sich fort. Von nun an ging ich anders durch die Welt. Eine innere Unruhe machte sich breit, zog bis tief in meine Eingeweide. Wie ein um sich greifendes Krebsgeschwür mit langen Tentakeln. Gefühlskrebs. Ganz egal, ob ich mich mit Freunden traf oder in der Schule war, mein Gefühlsleben wucherte. Die Welt und ihre Bewohner waren mir fremd geworden. Ging ich eine Straße entlang, hatte ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Zeitgleich starrten mich alle an. So widersprüchlich das klingt, genau so habe ich es empfunden. Es ist schwer zu erklären, aber das Gefühl, unsichtbar und somit unbedeutend zu sein, hatte wohl etwas mit meiner Unfähigkeit, mich selbst zu spüren, zu tun.

Alles andere, die Welt, die Menschen, mein Umfeld, nahm ich so deutlich wahr, dass es mich fast umbrachte. Ein Blick, wie ein Fingerzeig. Alle Worte klangen doppeldeutig. Ich vertraute niemandem, spürte jede kleinste Regung meines Umfelds und bezog alles auf mich. Als sei ich Teil der »True Man Show«. Mit dem Unterschied, dass ein anderer Teil in mir wusste, dass diese Show nicht real war und einfach etwas mit mir selbst nicht stimmte. Somit waren nicht nur die Finger der anderen auf mich gerichtet, sondern auch mein eigener. Ich stand also dort, auf meiner Metaebene, und wunderte mich, während ich gleichzeitig litt. Wenn ich nur damals schon begriffen hätte, dass der einzig reale Fingerzeig mein eigener war, den ich lediglich auf die anderen projizierte.

Erst viele Jahre später las ich in einem Buch über die Spaltung, die Menschen mit einer Borderline-Störung erfahren, und über Projektion negativer Gefühle auf andere. In diesem Moment erkannte ich, dass es noch eine weitere Ebene gab, außer den Positionen der Leidenden und der kopfschüttelnden Beobachterin. Ich hatte die Möglichkeit zu begreifen, mich zu verstehen. Das war eine Chance auf Veränderung. Denn ich sehnte mich nach innerem Frieden.

Doch bis ich so weit war, ist viel Zeit vergangen. Zeit, in der einiges schiefgelaufen ist. Es hat lange gedauert, bis ich mich wieder auf jemanden einlassen konnte. Fünf Jahre quälte mich die Sehnsucht nach diesem einen Jungen, obwohl es längst nicht mehr um ihn ging. Mein Gefühlskrebs trug lediglich seinen Namen. Irgendwer musste ja herhalten. Dass es an mir liegen könnte, daran dachte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Zwischendurch lernte ich andere Jungs kennen, aber nichts war von Bedeutung. Das teilte ich selbstverständlich jedem mit.

"Anderen zu helfen tat mir gut"

Schule war nie ein Problem für mich. Ich kann mich nicht daran erinnern, je viel gelernt zu haben. Alles flog mir irgendwie zu. Wahnsinn eigentlich, denn ich hab viel geschwänzt. In der 12. Klasse habe ich es auf 50 Prozent Abwesenheit gebracht. Trotz etlicher Fehlzeiten schaffte ich mein Abitur problemlos. Was sollten sie auch tun? Man lässt keine Schülerin durchfallen, die in den Klausuren so gute Noten schreibt. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich studiere. Wenn das Gerippe schon keinen Schwanz zwischen den Beinen hatte, dann wenigstens die Eier für ein Studium. Wahrscheinlich war es genau diese Art von Druck, die mich zum Gegenteil verleitete.

Nach meinem Abitur machte ich deshalb erst eine Ausbildung zur Krankenschwester. Obwohl mir Jura vorschwebte. Dennoch war es ein anständiger und ehrlicher Job. Anderen zu helfen tat mir gut. Das wäre ein prima Beruf für meine Mutter gewesen, hab ich damals oft gedacht.

 Trotz Borderline: Neue Chance für die Liebe

Als ich 22 wurde, lernte ich Adam kennen. Er war Arzt und zwölf Jahre älter als ich. Somit gab es keine Möglichkeit, ihn mit meinem ersten Freund zu vergleichen, was ich natürlich versuchte. Adam war erwachsen und hatte klare Vorstellungen. Ziemlich schnell verstand ich, dass ich der Liebe wieder eine Chance geben musste. Das tat ich dann. Der Altersunterschied machte sich bemerkbar, was gut für mich war. Ich fühlte mich wohl und geborgen. Mein Gefühlskrebs war nicht geheilt, aber Adam schaffte es, ihn zu besänftigen, sodass er kaum noch wucherte. Ging es doch mal mit mir durch, hatte ich meine Methoden. Nicht wie früher, indem ich mich ritzte oder verbrannte. Ich ging dann lieber ordentlich feiern und hab es mir richtig gegeben. Nur nicht mehr so regelmäßig wie die Jahre zuvor.

Es dauerte nicht lange, bis ich mit Adam zusammenzog. In unserer Wohnung kam ich meist wieder runter. Adam ließ mich, wie ich war, nahm meine Stimmungsschwankungen als einen Teil von mir. Inzwischen glaube ich, dass er selbst mit sich zu kämpfen hatte und deshalb vieles nachvollziehen konnte. Bloß, dass ich es damals nicht mitbekam. Zumindest nicht in den ersten Jahren.

Alles schien sich zu beruhigen. Adam hat irgendwie alles kompensiert. Er war meine Rettung, davon war ich überzeugt. Möglicherweise stimmte das sogar, denn ich hängte meinen Job als Krankenschwester an den Nagel und wagte mich an ein Studium. Jura. Immer wieder versicherte mir Adam, dass ich eine gute Anwältin sein würde. Schließlich hatte ich ja meine Geheimwaffe, die Empathie. Das Studium sei nur die halbe Miete, versprach er mir. Es tat gut, jemanden an meiner Seite zu wissen, der an mich glaubte.

Mein Vater hatte es ja nie getan. Aber mit dem Studium zeigte er sich wieder interessiert an meinem Leben. Bei gemeinsamen Familien-treffen erzählte er plötzlich von verbindenden Vater-Tochter-Erlebnissen. An die meisten davon konnte ich mich nicht einmal erinnern. Und wenn doch, dann wusste ich nichts mehr von dem »strahlenden Himmel«, unter dem wir Handball gespielt hatten, sondern sah nur meine Mutter, wie sie sich echauffierte. Es gefiel ihr damals nicht, die zweite Geige zu spielen, deshalb warf sie uns vor, wir hätten sie allein gelassen. Statt sich einfach mal für uns zu freuen. Das Ganze führte dazu, dass sich mein Vater viel zu sehr aufregte. Da konnte der Himmel noch so strahlen. Ich erinnerte mich nicht daran.

Jedenfalls hörten die Kosenamen meines Vaters mit dem Beginn meines Studiums auf. Ich war kein Gerippe mehr, sondern Leonie, seine Tochter mit Profil. Alles in mir sträubte sich gegen seine Zuneigung. Warum erst jetzt? Lächerlich. Ich selbst nahm mein Studium nicht wirklich ernst. Hab nicht einmal daran geglaubt, dass ich es schaffe. Irgendwie hab ich es dann doch geschafft. Nach 8,5 Semestern habe ich die Prüfung auf Anhieb bestanden. Keine Ahnung wie. Danach war ich angefixt und wollte unbedingt mein Referendariat. Das war genau mein Ding. Infolgedessen bin ich direkt in die Selbstständigkeit gegangen. Irgendwo angestellt zu sein, war keine Option.

Auch die Schwester leidet unter Beziehungsproblemen

Meine Eltern besuchte ich nur noch selten, rief an Feier- und Geburtstagen an. Ich ertrug ihr Heile-Welt-Getue nicht. Nur an Weihnachten war ich immer dort. Gemeinsam mit meiner Schwester. Mit Mitte 20 steckte sie in ihrem ersten Scheidungskrieg. Unsere Familie hatte auch ihr übel zugesetzt. Jahrelang war ich der Liebe aus dem Weg gegangen. Meine Schwester aber sprang immer wieder ins offene Feuer. Ein Typ folgte dem nächsten. Noch während ihrer ersten Scheidung erzählte sie mir schon von ihrer neuen Flamme. Gar nicht gesund.

Aufgrund ihrer Liebeseskapaden war damals unsere Band auseinandergebrochen. Was schade war, aber Neues mit sich brachte. Zum Beispiel Zeit. Ich hatte die Wahl. Entweder ich fing etwas damit an, oder ich gab mich meinem Gefühlschaos hin. Deshalb meldete ich mich in einer Kampfschule an, um Wing Tsun zu lernen. Mit Adam lief es zu diesem Zeitpunkt etwas chaotisch. Zehn gemeinsame Jahre lagen bereits hinter uns. Genug Zeit, um mich zu entwickeln. Eine Weile hatten wir uns gemeinsam verändert. Konstant und kompatibel waren wir geblieben. Das hat uns immer sehr stolz gemacht. Doch an der 10-Jahres-Grenze fing es langsam an, knifflig zu werden. Eine Kampfsportart zu lernen war somit eine gute Ablenkung, vielleicht ein Versuch der Verdrängung. Da wusste ich noch nicht, dass Kampfsport mich das Gegenteil lehren würde: Bewusstsein.

 Mein Gefühls-Chaos führte zur Offenen Beziehung

Meine Borderline-Störung hatte mich gelehrt, meine eigene Energie auf mein Gegenüber zu projizieren. Ganz egal, ob ich jemandem Gutes oder Böses wollte, ich verschwendete mich selbst. Die Kampfkunst aber verlangte, mich auf mein Gegenüber einzulassen, ihn zu spüren und letztlich seine eigene Kraft gegen ihn zu richten. Ein völlig neuer Ansatz für mich. Sich einlassen, das kannte ich bis dahin gar nicht. Mein Gefühlsleben und mein Ego waren Zentrum jeder Begegnung. Grundsätzlich hatte ich die Emotionen meines Gegenübers auf mich selbst bezogen oder gegen mich gerichtet. Mit meinem neuen Bewusstsein ging ich passiver durch die Welt, ließ Hindernisse auf mich zukommen, statt voller Wut vorzupreschen. Ich lernte, mit Konflikten umzugehen. Früher war ich oft wegen Kleinigkeiten ausgerastet. Ein schiefer Blick im Supermarkt genügte, um mich gegen den ganzen Tag zu entscheiden. In kleinen Schritten änderte sich meine Wahrnehmung. Und mein Körper. Der Sport formte mich, verhalf meinem knochigen Körper zu Struktur. Dadurch spürte ich mich endlich.

Das veränderte mein Sexleben. Adam und ich waren früher experimentierfreudig und extrem gewesen. Da gab es kaum etwas, was wir nicht ausprobierten. Fesseln und BDSM gehörten auch dazu, waren aber nicht das zentrale Thema. Dafür waren wir viel zu wahllos. In den letzten Jahren jedoch hatte unser Sexleben komplett aufgehört zu existieren. Unsere Lust schien generell verschwunden. Eine Zeit lang habe ich regelrechten Ekel empfunden, wenn ich bloß an Sex dachte. Mit dem neuen Körperbewusstsein aber kam die Lust zurück. Untypisch daran war, dass ich personenunabhängig Lust verspürte. Adam spielte dabei zunächst keine Rolle. Wir waren unterdessen in unserem zwölften Jahr, hatten viele Auseinandersetzungen. Da denkt man nicht an Sex.

Mittlerweile war ich Teil einer neuen Band. Nach einem Gig übernachteten wir in der Wohnung eines Bekannten, der in der Nähe wohnte. Ein paar Wochen zuvor war ein neuer Sänger zu uns gestoßen. Björn – eigentlich mochte ich ihn nicht besonders. Das ging mir oft so mit Menschen, die hinterher Teil meines Lebens wurden. Anfangs fand ich die meisten doof. Aus Platzgründen mussten Björn und ich ein Bett teilen. Wie wir dort lagen, völlig aufgewühlt. Diese Spannung zwischen uns. Kaum aushaltbar. Das war verstörend, denn ich war Adam immer treu gewesen. Es kam also nicht infrage, mich meiner Lust hinzugeben. So quälten wir uns durch die Nacht, ohne einander zu berühren.

In der nächsten Woche hatten Adam und ich einen bösen Streit. Er warf irgendwelche Gegenstände nach mir, sodass ich die Wohnung fluchtartig verließ, um den Bann zu durchbrechen. Meine Dämonen standen schon Schlange. Mit der Flucht nahm ich ihnen die Macht. Ich ging lange spazieren, kam langsam wieder bei mir an. Bei meiner Rückkehr hatte Adam sich beruhigt. Das Gespräch, das dann folgte, war anders. Eine gefühlte Ewigkeit waren wir nicht so ehrlich zueinander gewesen. Adam erzählte, dass er manchmal andere Frauen begehrte. »Mach doch«, sagte ich flapsig. So war es entschieden. Von nun an führten wir eine offene Beziehung. Keine Woche später fielen Björn und ich übereinander her. Auch Adam suchte sich seinen Spaß. Details hielten wir voneinander fern. Obwohl ich Adam gern erzählt hätte, wie intensiv der Sex mit Björn war. Gefühle waren auch im Spiel. Sex und Liebe trennen? Unmöglich.

 Borderline-Beziehung: Viel Streit, viel Sex

Die neue Ebene unserer Beziehung führte dazu, dass wir wieder Lust aufeinander hatten. Als gäbe es kein Morgen, rammelten Adam und ich quer durch unsere Wohnung. Unsere vergessen geglaubte Intensität war zurück. Im Grunde hätte es so weitergehen können. Wenn da nicht diese kleine moralische Instanz in meinem Ohr gesessen hätte. Anfangs flüsterte sie nur. Gegen Ende war sie ein ewiger Schrei. Alles wurde zu viel. Zwei Männer bedeuteten Selbstprojektion hoch 2. Hinzu kam, dass keiner von uns bewusst an die Sache heranging. Wir ließen uns treiben. Adam hatte für mich Zuhause bedeutet. Ein Ort, der Rückzug und Sicherheit anbot. Nun wohnte diesem Ort ein offenes Ende inne. Mir war klar, dass ich zwei Männern auf Dauer nicht gewachsen war. Da war ich nicht die Einzige.

Adam schien das Ganze genauso zu überfordern. Unser Alltag war ein einziges Durcheinander. Entweder wir stritten, oder wir vögelten uns um den Verstand. Nach jedem Streit gab es Sex. Kein normaler Sex und weit entfernt von Liebe. All unsere Zerrissenheit lag darin. Als versuchten wir, unseren alten Zustand wieder herzustellen. Dabei hätte eine Umarmung uns viel weiter gebracht.

Zwischen all diesem Chaos las ich ein Buch über die Borderline-Störung. Dieser Begriff war mir nicht neu. Der Verdacht, ich könne betroffen sein, auch nicht. Mich in diesem Buch selbst zu entdecken, war eine harte Lektion. Auch in Adams Verhaltensstruktur erkannte ich Etliches wieder. Anfangs führte mich die Selbsterkenntnis in die falsche Richtung. Meine Ausraster nahmen wieder überhand. Teilweise ließ ich sie bewusst stattfinden. Meine Ausrede: Ich bin Borderlinerin. Ganz klar, ich durfte das. Dies führte dazu, dass meine Beziehung noch wankelmütiger wurde. Ich bin nicht sicher, ob Adam mein Verhalten spiegelte oder ob auch er Borderliner war. In jedem Fall machte er mit, folgte unserem Aberwitz aus Nähe und Distanz.

Ich musste da raus. Spätestens als meine körperlichen Symptome wieder auftauchten. Jenes Herzrasen, das ich hoffte, in der Pubertät gelassen zu haben. Da war es wieder. Also las ich weiter, las mich tief hinein in meinen Abgrund. Langsam lernte ich, meine Wut im Zaum zu halten, mich zu kontrollieren. Es hat seine Zeit gebraucht, bis nicht mehr der Ausraster selbst die Routine war, sondern die Unterbindung des Ausrasters. So lernte ich, mich abzuspalten und mein verunsichertes, wütendes Ich zu bändigen. Schon früher hatte ich mich gespalten. Doch die Intensität meiner Gefühle hatte mein Über-Ich höchstens zum Staunen und Wundern gebracht. Als ich verstand, was mit mir passierte, konnte es den Beobachterposten verlassen und handeln.

 Die Borderline-Dämonen machten mich kreativ

Leider gelang es mir nicht, Adam mein neues Bewusstsein zu vermitteln. Im Gegenteil. Je mehr ich Abstand zu meinen Dämonen suchte, desto heftiger befielen sie ihn. Das führte dazu, dass ich mich zurückzog. Keine leichte Zeit. Ich war viel allein, ging Adam aus dem Weg. Damals habe ich begonnen, mit Photoshop zu experimentieren. Da ich selten unter Menschen ging, habe ich mich selbst fotografiert. Von einer seltsam kreativen Energie getrieben, begann ich mit düsteren Fotomontagen. Sie zeigten alle mich selbst, eingebunden in einen surrealen Kontext. Mein Gesicht oft verzerrt, halb Mensch, halb Fratze. Ich war nie wieder so kreativ wie in dieser Zeit. Björn legte mir nahe, dass ich die Bilder ausstellen solle. Das tat ich dann auch. Über mehrere Wochen hingen meine Werke dann in einem Klub. Die Leute mochten meinen Wahnsinn. Das Feedback während der Vernissage war enorm. Es war nicht der Applaus, der mich antrieb, weiter an mir zu arbeiten. Es war die Tatsache, dass ich andere bewegte. Ich war relevant.

 Das Ende der Beziehung war wie ein Befreiungsschlag

Die Streitigkeiten mit Adam langweilten mich nur noch. Dennoch schaffte er es, mich mit hinabzuziehen, wieder und wieder. Grund genug für mich, einen Schlussstrich zu ziehen. War er zu Beginn meine Rettung gewesen, repräsentierte er inzwischen nur noch Hindernis und Stagnation. Nach 15 Jahren Beziehung trennten wir uns dann. Ein unglaublicher Befreiungsschlag.

Inzwischen lasse ich es nicht mehr zu, dass ich überhaupt in einen Gefühlsstrudel gerate. Das macht vieles leichter. Um diesen Punkt zu erreichen, musste ich loslassen und nicht alles auf mich beziehen. Nicht jeder Vogel, der über meinen Kopf fliegt, hat es auf mich abgesehen. Niemand ist grundsätzlich gegen mich, und ich bin nicht unsichtbar. Das war ein wichtiger Lernprozess.

 Wie Borderline sich auf meinen Job auswirkt

Die meisten Bedrohungen nehme ich nicht mehr ernst. Meine gesteigerte Wahrnehmung ist geblieben. Ich versuche, sie zu nutzen. Vor allem in meinem Job kommt sie mir zugute. Das war nicht immer so. Es gab brenzlige Situationen. Einmal war es hart an der Grenze. Ich habe damals in einer Bürogemeinschaft gearbeitet. Wegen einer Lappalie flippte eine Mandantin regelrecht aus und schrie herum. Es ging dabei um eine Rechnung, nicht einmal viel Geld. Auf das, was dann folgte, war niemand vorbereitet. Auch nicht ich selbst. Ich packte die Mandantin am Kragen und wollte sie aus dem Büro werfen. Natürlich haben es alle mitbekommen, denn auch ich wurde laut. Meine Mandantin schrie unentwegt: »Körperverletzung, Körperverletzung …« Ich dachte nur: Verdammt, sie hat recht. Glücklicherweise haben wir uns alle wieder beruhigt. Ich kam mit einem bösen Blick und einer Mandantin weniger davon.

So etwas passiert mir heute nicht mehr. Viele meiner Mandanten bringen ihre eigene Verunsicherung mit. Das verurteile ich nicht. Ich verstehe es. Ich verstehe die Gefühle anderer, weil ich meine Gefühle verstehe und mir kaum etwas fremd ist. Wenn heute jemand in mein Büro kommt und seine Emotionen mit ihm durchgehen, lehne ich mich zurück und warte, bis er sich ausgekotzt hat. Bei manchen kann ich sie sehen, die Dämonen. Wie bei mir damals. Eine neutrale Haltung ist die beste Verteidigung, die ich habe. Und die einzige, die ich mir erlaube. Das hilft meinem Gegenüber. Und mir. Ja, womöglich fühle ich mich sogar überlegen in solchen Momenten. Das mag arrogant klingen, ist aber nicht so gemeint. Ich tue ja niemandem was. Es hilft, das ist die Hauptsache.

 Ich weiß nicht, ob ich je wieder eine Beziehung will

Privat fällt es mir nicht ganz so leicht, bei mir zu bleiben. Deshalb meide ich Situationen, die zu riskant sind. Björn ist noch immer Teil meines Lebens. Wir sind kein klassisches Paar, wir sind Komplizen. Genau wie ich hat Björn Probleme mit seinem Gefühlsleben. Wir haben schon lange keinen Sex mehr und sehen uns nicht oft. Aber mit ihm kann ich reden. Über all den Mist, der manchmal in mir festhängt und einen Weg nach draußen sucht. Sein Verständnis macht alles erträglicher.

Ob ich mich je wieder auf eine richtige Beziehung einlasse, ist unklar. Ich bin versucht, Nein zu sagen, wäre da nicht das Wissen um die Macht der Liebe. Sogar gesunde Menschen erliegen ihr. Kinder kommen jedenfalls nicht infrage. Das war immer so.

Ich hatte nie das Gefühl, eine autonome Person zu sein. Deshalb musste ich es werden. Um eine Person zu sein, muss man wissen, wer man ist. Um zu wissen, wer man ist, muss man sich einlassen auf Dinge, die einem gut tun. Oder sich zu Eigenschaften bekennen, selbst wenn sie schlecht sind. Selbstbestimmt, ohne fremden Einfluss. Irgendwann machten mich diese Dinge zu einer Person. Ich bin Anwältin, ich bin Kampfsportlerin, ich bin Gitarristin. Ich bin eine Frau. Und ich bin Borderlinerin."

 

Quelle