Besser als Wellness: Wie Waldbaden unseren Körper stärkt

23.04.2019 15:43

Unter Buchen, Lärchen und Fichten tanke ich Kraft. Am besten lässt sich die überaus wohltuende Wirkung des „Waldbadens“ erfahren, wenn man einmal ganz für sich allein unterwegs ist

Wenn ich mich in der Natur bewege, ich Tiere und Pflanzen um mich habe, den Himmel über mir spüre und den Erdboden unter mir: Dann geht es mir gut. Oft genügt es bereits, einfach draußen zu sein, wo es grün ist. Meine Frau und ich haben einen großen Garten, in dem wir Gemüse anbauen. Für mich wirkt die Beschäftigung dort wie ein Anti-Stress-Programm. Inmitten der Natur stellt sich bei mir fast augenblicklich Freude ein. Und Ruhe. Vor allem dann, wenn ich allein unterwegs bin. Dann genieße ich das Wetter, Wind und Wolken. Und oft kommen mir in der Natur großartige Gedanken und Ideen — eben weil ich nicht irgendeine bestimmte Aufgabe abarbeite.

Diese Zweckfreiheit regt die Kreativität ungemein an, wie Hirnforscher herausgefunden haben. Gerät man beispielsweise in eine Lebenskrise und denkt über eine grundlegende Veränderung in seinem Leben nach, etwa über einen Jobwechsel, dann kann die Atmosphäre des Waldes die Gedanken beflügeln — und einen geradezu spüren lassen, wie der Kontakt zur Natur, zum Lebendigen, einen stärkt und ermutigt.

Duftstoffe für unser Immunsystem

Das geht vermutlich nicht nur mir so. Viele Untersuchungen zeigen, dass die Natur eine heilsame Wirkung auf uns ausübt — auf die Stimmung wie auf den Körper. Gerade Waldspaziergänge entfalten messbare Effekte. Sobald wir einen Forst betreten, schlägt unser Herz ruhiger, der Blutdruck sinkt, im Körper zirkulieren weniger Stresshormone.

Blätter entfalten ihre Heilkraft allein schon, wenn wir sie ansehen: Das Grün wirkt offenbar beruhigend auf Körper und Psyche. Neuere Forschungen belegen gar, dass bestimmte Duftstoffe, die die Bäume ausdünsten, unser Immunsystem stärken. So steigt nach Aufenthalten im Wald die Anzahl wichtiger Abwehrzellen messbar an. Nicht zufällig verbreitet sich auch in Deutschland seit einigen Jahren der aus dem asiatischen Raum stammende Trend des „Shinrin-Yoku“.

Meist findet dieses „Waldbaden“ unter Anleitung eines Experten statt; dabei werden Aufenthalte in der Natur mit verschiedenen Übungen verknüpft — etwa mit Meditation, dem Training von Achtsamkeit oder sanfter Bewegung wie Qigong.

Lernen, sich im Wald zu entspannen

Vor allem aber geht es darum, alles langsam auszuführen. Kein festgelegtes Ziel zu verfolgen. Das klingt banal, aber manchmal sind ja die banalen Dinge die schwierigsten und wirkungsvollsten.

Ich begrüße diese Entwicklung sehr. Denn viele Menschen trauen sich nicht, einfach in den Wald zu gehen, ohne Ziel, ohne Plan. Und gerade für diejenigen, die sich vielleicht noch nicht sicher in der Wildnis fühlen, ist es ungemein hilfreich, an die Hand genommen zu werden. Und zu erfahren, wie man das am besten anstellt: sich im Wald zu entspannen.

Denn das ist heutzutage nicht selbstverständlich. Die meisten von uns organiseren ihren Aufenthalt in der Natur ähnlich wie ihren Alltag oder den Job: mit festgelegten To-do-Punkten. Wenn sie sich beispielsweise vornehmen, wandern zu gehen, starten sie morgens um acht, erreichen mittags ein anvisiertes Gasthaus und kommen abends wieder am Parkplatz an.

Kaum einer nimmt sich für den Tag nur, sagen wir: 300 Meter vor, weil es einfach so schön ist, und kehrt dann wieder heim. Oft geht es um schieres Tempo: darum also, viel Strecke zu machen. Im Prinzip spricht gegen ein solches Naturerleben nichts – Wandern entspannt ja auch, man verbringt Zeit im Freien, sieht viel. Und doch wird der Wald auf diese Weise mehr oder minder zur Kulisse reduziert.

Beim Waldbaden dagegen drehen wir die Geschwindigkeit runter. Wir lernen, vom Gas zu gehen, legen unsere Ziele beiseite. Wir lassen den Moment bestimmen, was der nächste Augenblick bringt. Und tauchen auf eine ganz eigene Art in die Natur ein.

Das funktioniert meiner Erfahrung nach am besten, wenn einer sich ganz allein in die Natur wagt. Oft lenken sich zwei ja auch dadurch ab, dass sie miteinander reden und so die Aufmerksamkeit für die Natur schmälern. Das Alleinsein im Wald dagegen lädt zu einer besonderen Art der Reflexion ein.

Ich rate jedem, einfach mal eine Isomatte mit in den Wald zu nehmen und sich mindestens eine Stunde unter einen Baum zu legen. Eigentlich ist das nichts anderes als eine Form des Waldbadens — kostenlos, ohne Anleitung. Man liegt eine Stunde oder auch länger auf dem Boden. Wer sich vor ein wenig Schmutz auf der Kleidung nicht scheut, kann auch gern auf die Isomatte verzichten.

Es ist interessant, wie sich die Wahrnehmung in einer solchen Natur-Auszeit verändert. Manch einer von uns wird es derart heimelig finden, dass er nach 15 Minuten einschläft — was natürlich völlig in Ordnung ist. Ein anderer verliert sich nach einer Weile vielleicht mit dem Blick im Geäst über sich, taucht beobachtend ein in das leichte Wogen der Baumkronen.

Wer wach bleibt, wird sicher erleben, wie sich die verschiedenen Sinne anregen lassen. Wie fühlt sich das Moos unter meinen Händen an? Was knackt dort in der Ferne? Ist es angenehm, wie der Wind meine Wangen umschmeichelt?

Vielleicht fällt zwischendurch etwas Nieselregen. Auch das sollte man mal erleben — und versuchen, einen leichten Schauer auszuhalten. Es ist ja nicht gefährlich.

Das Gehirn beginnt bei einer solchen Ruhezeit im Wald schon bald anders zu arbeiten. Es wird sonst ja ständig mit Informationen aus unseren Sinnesorganen gespeist. Und die funktionieren nun einmal ganz anders in der Natur, auf eine Weise, die uns beruhigt.

Allein der Sehsinn: Der ist natürlicherweise auf mittlere bis große Distanzen eingestellt. Viele von uns arbeiten aber heutzutage am Monitor oder schauen mehr oder minder ständig auf ihr Smartphone. Für das Auge ist das eine unnatürliche Belastung. Stress. Und unter anderem auch ein Grund für den hohen Anteil an Kurzsichtigen in der Bevölkerung.

Oder die Nase. Weit verbreitet in der Bevölkerung ist das Gerücht, wir Menschen hätten im Vergleich zu den meisten Tieren ein eher schlechtes Riechorgan. Das ist schlicht falsch: Es fehlt uns nur an Übung. Denn im Alltag brauchen wir die Nase kaum.

Das bedeutet nicht, dass wir in der Natur automatisch besser riechen – aber man kann das Riechen nirgendwo besser schulen als im Wald. Daher sage ich bei meinen Führungen oft: Nehmen Sie bitte einmal einen ganz tiefen Zug Luft und versuchen Sie die einzelnen Aromen zu erschnuppern: trockene Nadeln? Abgestorbenes Holz? Blütenduft?

Und dann gibt die Natur einen wichtigen Schatz frei

Wer eine Stunde lang unter einem Baum liegt, der wird nach einiger Zeit ganz sicher bewusst vielfältige Düfte wahrnehmen — erdige, würzige oder harzige Noten. Und natürlich wird er auch stärker als im Alltag auf Geräusche der Umgebung und die Temperatur achten.

All das beruhigt ungemein, mehr noch: Es beglückt.

Denn durch das Öffnen aller Sinne, durch die achtsame Wahrnehmung der Umwelt, kann — das ist zumindest meine eigene Erfahrung — die Natur ihren vielleicht wichtigsten Schatz preisgeben: die Einsicht, dass nichts im Leben statisch ist, dass sich alles stets im Wandel befindet. Jeder Zustand hat seine Zeit, dauert nicht ewig an.

Und das bedeutet schließlich: Wir können uns und dem Geschehen um uns etwas gelassener begegnen. Und auf diese Weise geradezu körperlich spüren, wie der bewusste Kontakt zum Wald uns stärkt und ermutigt.

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