Ann-Marie, 17, wird in Brokstedt im Regionalzug erstochen. Jetzt spricht ihr Vater im TV: Unser Leben ist zerstört

18.04.2023 12:00

Michael Kyrath hat seine Tochter bei der Messerattacke in einem Regionalzug in Brokstedt verloren. Bei "stern TV am Sonntag" spricht er zum ersten Mal über den Tag der Tat – und seine Forderungen an Politik und Justiz.

Am 25. Januar ändert sich für Michael Kyrath alles. An jenem Mittwoch am Anfang des Jahres 2023 verliert er seine Tochter. Für immer. Die 17-jährige Ann-Marie wird im Regionalexpress 11223 von Kiel nach Hamburg von Ibrahim A. erstochen. Die Tat im schleswig-holsteinischen Brokstedt sorgt bundesweit für Entsetzen. Rund drei Monate nach dem gewaltsamen Tod seiner Tochter spricht Michael Kyrath zum ersten Mal im Fernsehen bei "stern TV am Sonntag" über den Moment und die Zeit danach – es ist ein bewegender Auftritt im Studio bei Moderatorin Mareile Höppner (die vollständige Sendung sehen Sie hier bei RTL+).

Vater von Brokstedt-Opfer spricht bei "stern TV am Sonntag"

Äußerlich gefasst schildert Kyrath die Stunden des vergeblichen Bangens um das Leben seiner Tochter, nachdem die 17-Jährige nicht wie üblich nachmittags aus der Schule kommt. "Wir haben versucht, sie übers Handy zu erreichen." Doch rangegangen sei niemand. "Wir haben dann über Freunde gehört, dass es ein Attentat im Zug in Brokstedt gegeben hat." Für Kyrath das Signal, sich selbst mit dem Auto auf den 35 Kilometer langen Weg vom heimischen Elmshorn zum Tatort zu machen, um dort an Informationen zu bekommen. "Wo mir dann mitgeteilt wurde, dass leider eines der Opfer meine Tochter war."

Ann-Marie ist am 25. Januar frisch verliebt, gerade fünf Tage ist sie mit Danny P. zusammen, sitzt gemeinsam mit ihm in dem Regionalzug. Auch der 19-jährige Bahn-Auszubildende wird von Ibrahim K. in dem Doppelstockwaggon erstochen. Fünf weitere Menschen werden bei der Messerattacke verletzt, ehe Fahrgäste den Täter überwältigen und an die Polizei übergeben können.

"Das erste Gefühl ist eigentlich, als wenn man rückwärts in eine Schlucht stürzt und eigentlich wartet, dass irgendwann der harte Aufprall kommt", schildert Kyrath die Zeit nach der Todesnachricht. "Das dauert eine ganze Zeit. Irgendwann wird einem das bewusst, was passiert ist, dass das eigene Kind nicht wiederkommen wird." Was einem als Eltern verwehrt bleibe, die Hochzeit vielleicht, oder Enkelkinder.

Immer wieder schockieren Messerattacken die Öffentlichkeit

Würzburg, Dresden, Illerkirchberg. Die Messerattacke in der schleswig-holsteinischen Provinz fügt sich in eine ganze Reihe von ähnlichen Angriffen in Deutschland in den vergangenen Jahren ein. Immer wieder sterben dabei Menschen, verlieren Angehörige und Freunde ihre Liebsten. Auch sie sind die Opfer solcher Taten. "Unser Leben ist zerstört", sagt Kyrath.

Und immer wieder spielt bei tödlichen Messerattacken auch mutmaßliches Behördenversagen und der möglicherweise zu lasche Umgang mit Gewalttätern eine Rolle. Ibrahim K. kommt 2014 als Flüchtling aus dem Gaza-Streifen nach Deutschland und wird schon kurz nach seiner Ankunft zum ersten Mal straffällig. Insgesamt 24 Ermittlungs- und Strafverfahren gibt es allein in Nordrhein-Westfalen, dreimal wird er verurteilt, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung. Hinzu kommen Bedrohungen oder Angriffe mit Messern in Schleswig-Holstein und Hamburg. In der Hansestadt wird A. erneut verurteilt, zu einem Jahr und einer Woche Gefängnis. Doch der Verurteilte legt Berufung ein, das Urteil wird nicht rechtskräftig. A. bleibt daher in Untersuchungshaft. Es gibt Hinweise auf Drogenkonsum und psychische Auffälligkeiten. Am 19. Januar 2023 wird A. aus der U-Haft entlassen – die Strafe hat er fast komplett abgesessen – und kehrt zurück nach Kiel. Dort besteigt er am 25. Januar um 14.25 Uhr am Hauptbahnhof den Regionalexpress 11223. 29 Minuten später wird aus dem 33-jährigen Flüchtling ein Doppelmörder.

"Es ist dort sehr, sehr viel schiefgelaufen, seitens der Justiz, der Behörden, die dafür verantwortlich sind. Es darf eigentlich so etwas nicht passieren", klagt Kyrath an. In Deutschland müsse man auf der Arbeit alles dokumentieren "und in so einem Fall stellen sich Menschen hin und sagen: 'Wir sind dafür nicht verantwortlich, das ist jetzt aber schiefgelaufen.' Das sind Dinge, sowas darf in diesem Land nicht passieren. Und das muss aufgearbeitet werden." Bei dem Vater der Toten macht sich angesichts Ernüchterung breit. "Es sind die gleichen Antworten, die wir nicht erst seit der Tat, die uns betroffen hat, hören, sondern seit Jahren. Wir diskutieren, wir reden, wir planen, wir sprechen drüber – Handeln? Habe ich bis jetzt noch nicht gesehen."

"Es ist ein zweifacher Mord und so muss er auch bestraft werden"

Mit dieser Haltung stehe er nicht alleine, sagt Kyrath. Er sei in Kontakt mit etlichen Hinterbliebenen von bei Gewalttaten Getöteten. Das sich seit Jahren wiederholenden Diskussionen und der Umgang mancher Politiker mit solchen Taten seien "ein Schlag ins Gesicht für uns als Eltern und auch alle anderen Eltern und Hinterbliebenen". Es sei Zeit, zu handeln und nicht zu reden. Kyrath fordert eine umfassende Aufarbeitung des Umgangs der Behörden mit Ibrahim A. – auch deswegen unternehme er den Gang ins Fernsehen.

Wann Ibrahim A. für den Doppelmord im Regionalexpress vor Gericht kommt, steht noch nicht fest. Michael Kyrath kann sich nicht vorstellen, im Gerichtsaal dem Mörder seiner Tochter in die Augen zu schauen, will dem Prozess möglicherweise fernbleiben. "Wichtig ist, dass die Justiz dort mit voller Härte greift und nicht wieder Ausreden kommen (...) Es ist ein zweifacher Mord und so muss er auch bestraft werden."

Zuhause in Elmshorn wartet ein Kinderzimmer ohne Leben auf Michael Kyrath. Die Familie habe es so belassen, wie Ann-Marie es sich eingerichtet habe. Das helfe bei der Trauer, sagt der Vater. Doch ihm fehlen "ihre Leichtigkeit, ihre Fröhlichkeit, ihre Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Menschen". Für immer.

 

 

Quelle