An die Kette gelegt: Bitte hört endlich auf, euch eure Handys um den Hals zu hängen!

14.07.2022 13:04

Sie sind seit Monaten das neue Trend-Accessoire: Handyketten. Ein Zeichen dafür, wie armselig und – im wahrsten Sinne des Wortes – abhängig wir von unseren Handys geworden sind, findet unsere Autorin.

Ein überdimensional großes, leicht labil grinsendes Smartphone hat einen Menschen an ein Halsband gekettet und führt ihn an der Leine herum – so hat es der gesellschaftskritische Londoner Künstler Steve Cutts schon 2015 mit einer Karikatur vorhergesagt. Bereits heute ist aus der Zeichnung Realität geworden. Schneller als gedacht.

Denn mittlerweile sind sie überall, in der Stadt, in der U-Bahn und im Büro: Menschen, die sich für ihr Handy an die Kette legen. Zugegeben: Die Handys am anderen Ende der Kette sind noch nicht menschengroß, streng genommen haben sie auch keine Arme und Beine und, na gut, sie lächeln (noch) nicht – aber die Leine, die ist eindeutig schon vorhanden. Was aussieht wie eine Plastikhülle mit einem überdimensional dicken und besonders geschmacklosen Schnürsenkel dran, ist schon seit Monaten Mode. Kaum eine Frau ist mehr ohne die Kordel um den Körper zu sehen. Was, wie so viele schreckliche Trends, von Influencern auf Instagram befeuert wurde, hat schnell seinen Weg auf die Straßen gefunden: die Handyketten.

Aber warum nur legen sich Menschen freiwillig an die Kette? Schon klar, kein Handyketten-Träger würde jemals zugeben, dass er sich das Handy um den Hals hängt, weil er abhängig ist, wie es eigentlich schon der Name sagt. Und einfach nur ein Modetrend ist das Ganze auch nicht.

Nein, nein, die Träger haben viel bessere Begründungen parat. Sie binden sich das Handy um den Körper, weil das einfach so ungemein praktisch ist. Argumente lauten dann in etwa so: "Das ist super praktisch, ich habe einfach immer die Hände frei." Was im Umkehrschluss bedeutet: Die einzige Möglichkeit, dass sie die Hände nicht dauerhaft am Handy haben, besteht für einige Menschen also darin, es sich als Kette um den Hals zu hängen. Herzlichen Glückwunsch!

Die Erfinderin des hässlichen Ungetüms schwärmt gar davon, dass die Hände dank ihrer Erfindung frei seien, "um dem Kind oder dem Partner einfach mal durch die Haare zu streichen", wie sie "bento" sagte. Mir fällt da spontan noch eine ganz andere Möglichkeit ein, wie ihr eurem Partner oder Kind trotz Handy durch die Haare streichen könntet: indem ihr das Teil einfach mal weglegt. Aber sorry, das ist offensichtlich keine Option. Wäre auch ziemlich unpraktisch, wenn ihr gerade einen Schnappschuss für Instagram von eurem #familyday machen wollt und dann das Handy nicht in Reichweite ist. Nicht, dass die #qualitytime dem Namen noch alle Ehre machen würde.

Aber es gibt noch andere beliebte Argumente der im wahrsten Sinne des Wortes Handy-Abhängigen: "Dank meiner Kordel kann ich mein Handy nicht mehr verlieren." Stimmt! Aus dem gleichen Grund hängen Eltern ihren Kindergartenkindern Klettverschluss-Portemonnaies um den Hals. Man sollte meinen, irgendwann wären wir aus diesem Alter heraus, in dem wir uns Dinge um den Hals hängen müssen, damit wir sie nicht mehr vergessen. Nun ja, so kann man sich täuschen. Stattdessen ist das Ding immer am Körper. Zum Beispiel beim Sport, wo auch das Handy, klar, von immenser Bedeutung ist (#fitspo!). 

Das Smartphone als dezentes Statussymbol über unserem Hintern 

Zugegeben: Es dürfte einige wenige Situationen geben, in denen die Handykordel tatsächlich eine Hilfe ist. Auf Konzerten ist es vielleicht noch ganz praktisch, das Handy am Körper befestigt zu wissen. Schließlich gehört es dort zum Pflichtprogramm, 80 Prozent des Auftritts für Instagram zu filmen. Mit Kordel um den Körper gehst du auf Nummer sicher, dass das Handy nicht runterfällt und die wertvollen Aufnahmen verloren gehen. Dann wüsste am Ende niemand mehr, dass du da warst.

Und überhaupt: So ein sichtbar teures iPhone an einer Kordel, das ist viel schwieriger zu klauen, als wenn es versteckt in deiner Tasche liegt. Es wird ja wohl niemand auf die Idee kommen, mal eben schnipp, schnapp, iPhone ab zu spielen, nur, weil er das neue iPhone 11 pro haben will, das als dezentes Statussymbol über deinem Hintern hängt. Oder? Lustig, dass den Handysüchtigen oft nicht einmal auffällt, dass sie ein solches zur Schau tragen. Da wird dann gerne mal über teure Handtaschen gelästert, während das neueste iPhone im gleichen Wert um den Körper baumelt. 

Die Handykette ist auf dem Vormarsch. Es kann nicht mehr lange dauern, ehe sich auf Instagram die ersten Bräute mit passender Kordel zum Schleier vor dem Traualtar ablichten lassen (oder selbst ablichten). Denn mittlerweile gibt es verschiedene Kordeln für verschiedene Anlässe – wie das Oktoberfest zum Beispiel.

Wir behandeln unser Handy wie einen Säugling

Den zukünftigen Bräuten sei es gegönnt. Denn natürlich kann jeder das tragen, was er möchte. Wer die Schnürsenkel-Plastikhülle schick findet, soll sie sich bitte um den Körper knoten – sich aber gleichzeitig darüber bewusst sein, dass die Handykette mehr als nur Mode ist. Sie ist ein Zeichen dafür, wie abhängig wir von unserem Smartphone sind. So abhängig, dass wir es nicht mal für eine Sekunde nicht an unserem Körper tragen, es nicht für eine Sekunde aus den Augen lassen wollen – ganz so, als sei es ein Neugeborenes. Mit dem kleinen Unterschied, dass unser Smartphone-Säugling in keiner Weise auf uns angewiesen ist. Wir sind angewiesen auf das Smartphone. 

Wenn es nachts nicht neben uns im Bett schläft, dann ist es an unseren Körper festgebunden: jederzeit griffbereit für den nächsten Schnappschuss, die nächste WhatsApp, die nächste Email. Das Schlimmste daran ist, dass uns das gar nicht mehr auffällt. Dass wir es cool und angesagt finden, unser Handy so nah am Körper zu tragen, als sei es ein Teil unserer Identität. Aber, machen wir uns nichts vor: Das ist es ja auch schon längst. Für mich stellt sich nur noch eine Frage, wenn ich die Menschen an der Handykette sehe, die ihnen angeblich mehr Freiheit schenken soll und ihren Blick in Wahrheit doch noch viel öfter auf das Gerät um ihren Hals fallen lässt: Wer hat hier eigentlich wen an der Kette? 

 

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