Als der Tod per Schiff ankam: Ein Lehrstück über die Bedeutung der Quarantäne

31.03.2020 21:45

Lange konnte Marseille die Pest fernhalten - bis zur Ankunft eines Handelsschiffs aus der Levante. Täuschte ein profitgieriger Kapitän die Gesundheitsbehörde – und verschuldete 1720 den Tod von 100.000 Menschen in Südfrankreich?

Marseille ist um 1720 der bedeutendste Hafen am Mittelmeer, Umschlagplatz für Waren aus dem Orient, ein Drehkreuz zwischen Nord- und Südeuropa. Es ist die Zeit, als der Kontinent immer noch von einer Pestepidemie heimgesucht wird, die in mehreren Wellen bereits Hunderttausende Opfer gefordert hat.

Vier Seuchen allein im 17. Jahrhundert – auch die Menschen in Marseille wissen genau, was die Pest bedeutet. Ihre Ratsherren haben daher ein ausgeklügeltes gesundheitspolizeiliches System entwickelt, um die fast 90.000 Bewohner zu schützen: Sie isolieren aus gefährlichen Gebieten kommende Schiffe, deren Passagiere und Ladung – schicken sie für einige Wochen in Quarantäne. Und sie kontrollieren die Reise und Situation an Bord mithilfe eines Gesundheitspasses, den der Kapitän bei der Einreise vorlegen, die Angaben unter Eid bestätigen muss.

Zwei Jahre lang wütet die Pest in Marseille

Eine Gesundheitsbehörde überwacht das Verfahren, durch das ein Jahrhundert lang die Pest ferngehalten werden kann. Doch dann, im späten Frühling des Jahres 1720, kommt es zur wohl größten Katastrophe in der Stadtgeschichte: An Bord eines Handelsschiffs aus der Levante wird die Seuche eingeschleppt. Viele Menschen leben zu dieser Zeit unter miserablen Bedingungen zusammengepfercht im Stadtkern, ohne Wasser, mit vollkommen unzureichender Hygiene. Zwei Jahre später ist mehr als jeder zweite Mensch in Marseille tot, ebenso viele verlieren im nördlich angrenzenden Gebiet ihr Leben.

Es ist der 25. Mai 1720, als die „Grand Saint Antoine“ sich der Inselgruppe Frioul gegenüber dem Hafen von Marseille nähert. Zehn Monate war der Dreimaster unterwegs und hat nun 500 Säcke Pottasche, vor allem aber 280 Tonnen von Ballen aus Baumwolle, indischem Tuch und anderem Stoff geladen, das auf Messen in der Champagne verkauft werden soll. Schiff und Ladung gehören vier Eignern, unter anderem dem Kapitän Jean-Baptiste Chataud sowie Jean-Baptiste Estelle, dem ersten Ratsherrn der Stadt Marseille. Doch die „Grand Saint Antoine“ hat nicht nur diese wertvolle Fracht, sondern auch eine tückische Krankheit an Bord.

Bereits auf der Passage im östlichen Mittelmeer ist ein türkischer Passagier plötzlich gestorben, auf der Reise nach Korsika trifft es fünf Matrosen und den Arzt. Chataud fürchtet das Schlimmste und läuft den italienischen Hafen Livorno an. Die Untersuchung der Toten ergibt, dass sie an einem „bösartigen, pestilenzialischen Fieber“ gestorben sind.

Log Kapitän Chataud um seinen Profit zu sichern?

Nicht die Pest also. "Möglicherweise war hier aber Bestechung im Spiel, um diese Diagnose zu bekommen", mutmaßt der Historiker Alexander Berner, der als Experte für die Geschichte der Pest die Ausstellung "Pest! Eine Spurensuche" im LWL-Museum für Archäologie in Herne mitkonzipierte.

Nach Ankunft in Marseille gibt der Kapitän bei der Befragung durch die Gesundheitsbehörde hingegen an, ihnen sei "schlechtes Essen" zum Verderben geworden. Die Quarantäne wird daraufhin mit zehn Tagen für die Passagiere, 20 Tagen für das Schiff und 30 Tagen für die Ladung festgelegt.

Ein Monat für das Tuch, das ist kein großes Problem. Lügt Kapitän Chataud, um seinen Profit zu sichern? Hat er also fahrlässig den Tod Zehntausender Menschen verschuldet, indem er gegen die Gesundheitsbestimmungen seiner Stadt verstieß? "Dieser Verdacht liegt sehr nahe", sagt Berner.

Doch die Rechnung des Kapitäns geht nicht auf. Sein Matrose Francois Lion zeigt plötzlich beunruhigende Krankheitssymptome und stirbt – gerade mal einen Tag nach Ankunft der „Grand Saint Antoine“. Die alarmierten Behörden verlängern daraufhin die Quarantäne auf 40 Tage für die Ladung, 30 Tage für das Schiff, 20 Tage für die Passagiere. Gut zwei Wochen nach Lion stirbt eine der Wachen an Bord, dann der Schiffsjunge, und auch sechs Träger erliegen binnen kurzer Zeit der Krankheit. Sie alle waren in Kontakt mit den Stoffen, in denen sich Flöhe eingenistet haben, die den Bazillus in sich tragen. In der Stadt stirbt ein Schneider, kurz darauf seine ganze Familie.

Ladung der „Grand Saint Antoine“ war verseucht

Die Pest greift auf Marseille über, und nichts kann sie mehr aufhalten. Längst ist klar, dass die Ladung der „Grand Saint Antoine“ verseucht war. Eine dritte Quarantäne wird über das Schiff verhängt, das mit Ruderbooten nach Jarre geschleppt wird, eine unwirtliche Insel südlich von Marseille. Als verflucht gilt es! Die Mannschaft, auch Kapitän Chataud werden nun von Booten der Gesundheitsbehörde mit Lebensmitteln versorgt. Sie sind isoliert, aller Kontakt nach außen ist untersagt.

Im September 1720 wird dem Schiffsführer in Abwesenheit der Prozess gemacht. Der Generalstaatsanwalt der Admiralität wirft ihm Lüge und kriminelles Verhalten vor; er habe nicht nur bei der Einreise die Unwahrheit gesagt, sondern auch Ware in die Stadt geschmuggelt, "sodass er die Ansteckungsgefahr auf das gesamte Königreich übertrug". Aber die Befragung der Zeugen bestätigt die Anklage nicht, es bleiben Zweifel an der Schuld des Kapitäns.

Wenige Tage später wird jedoch zunächst die Ladung, dann das Schiff auf Anordnung von Reichsverweser Jean-Jacques de Gérin, der den Prozess geführt hat, vor der Insel Jarre verbrannt. "Damit löst sich die Hoffnung der Besitzer auf eine Bereicherung in Rauch auf", schreibt der Archäologe Michel Gouri, der das 1978 gefundene, noch erstaunlich gut erhaltene Wrack der „Grand Saint Antoine“ untersuchte.

Zwei Jahre lang wütet die Pest in Marseille und der Umgebung. Kapitän Chataud, zwar nicht verurteilt, bleibt während dieser Zeit im Gefängnisturm des Chateau d`If eingesperrt. Erst im Sommer 1723 wird er entlassen und führt ein zurückgezogenes Leben. Bis zu seinem Tod fünf Jahre später akzeptiert er nicht, offenbar den Tod von 100.000 Menschen verschuldet zu haben.

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